Das Wispern der Schatten - Roman
würde. Er musterte den Schmied, der abwesend die Straße vor ihnen anstarrte und die Zügel locker in der Hand hielt.
» Thomas?«
Der Riese schien ihn nicht gehört zu haben. Jillan sah Aspin mit fragend hochgezogener Augenbraue an. » Was kannst du lesen?«, fragte er leise.
Der Bergkrieger blickte unbehaglich drein. » Na ja, ich habe es gar nicht versucht. Ich würde mich ein wenig wie ein Eindringling fühlen.«
Was ist nur mit den beiden los? Sie schleichen um ihn herum, als hätten sie Angst vor ihm. Vergessen sie denn, dass er ihnen Unrecht getan hat? Er hat sie wissentlich an der Nase herumgeführt und hätte sie für den Rest ihres Lebens festgehalten, um einem bösen Geist zu dienen, wenn du nicht gewesen wärst. Jetzt lassen sie zu, dass er euch alle wer weiß wohin bringt, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, ob sie ihm vertrauen können oder nicht, obwohl eure bisherigen Erfahrungen stark darauf hindeuten, dass ihm zu vertrauen das Letzte ist, was ihr tun solltet. Es wäre wahrscheinlich sicherer und insgesamt gnädiger, wenn du einfach eine der Klingen, die hier auf der Ladefläche des Wagens verstaut sind, nehmen würdest, um sie …
» Aspin, ich muss es wissen!«
Aspin zuckte zusammen, nickte dann aber. Er starrte Thomas eine ganze Weile an, wobei Fältchen und unterschiedliche Ausdrücke in so rascher Folge auf seinem Gesicht erschienen und wieder verschwanden, dass man ihnen nicht folgen konnte. Er holte Atem, um sich zu sammeln, und sagte dann unbeholfen: » Schuldgefühle und Qual, große Qual. Ich glaube, wir… können ihm vertrauen. Er will das, was in Linderfall geschehen ist, in gewissem Maße wiedergutmachen. Er wird tun, was er nur kann, um uns zu beschützen und uns zu helfen, deine Eltern zu befreien. Doch darüber hinaus ist er verloren, und da ist nur noch Dunkelheit.« Aspin ließ den Kopf hängen.
Jillan seufzte. Er stand auf, hielt sich an der Seitenwand des Wagens fest und zog den Kopf ein, um nicht an den Dornenranken der Tunneldecke hängen zu bleiben. Er zwängte sich an Aspin vorbei, klopfte Ash auf die Schulter und bedeutete ihm, dass er mit ihm den Platz tauschen wollte. Der Waldläufer nickte dankbar und stieg nach hinten vom Kutschbock herab.
Jillan saß eine Weile schweigend neben dem Hünen. Seine Augen hatten sich mittlerweile an das Halbdunkel gewöhnt, und er sah überall Bewegungen. Die Straße lebte! Alles war von wimmelndem, huschendem, hüpfendem, summendem, sausendem und kriechendem Leben erfüllt. Totenkopffalter flatterten wie bedrückende Träume umher, während edelsteinfarbene Schmetterlinge sie als Glücksmomente umtanzten. Ratten wuselten herum, gruben sich durch Unrat und Erde und machten so kleineren Nagetieren den Weg frei. Eine lohfarbene und fast unsichtbare Wildkatze schlich an ihnen vorbei, die funkelnden Augen wie eine optische Täuschung, der Rest wie eine rauchzarte Einbildung. Vögel stießen herab und huschten vorbei, spielten ein endloses Versteckspiel und zwitscherten herausfordernd. Schlangen und Blindschleichen glitten glänzend dahin; Ameisen und Spinnen ritten auf ihren Rücken mit. Von anderen Geschöpfen hatte Jillan bisher nur in Geschichten über Magie und die alten Zeiten etwas gehört.
Sie reisten eine der geheiligten Lebensadern der Welt entlang, als Teil des Geas, das gleich hinter und unter der kalten, alltäglichen Erde versteckt lag. Es gab die trostlose, unversöhnliche Wirklichkeit der Welt dort oben, einer Welt, der die Erlöser das Leben und die Farben ausgesaugt hatten, aber zugleich auch diesen Tumult aus Energie unter der Oberfläche. Jillan spürte, wie sein Glaube an das, was er versuchen wollte, zurückkehrte. Er war nicht einfach mit einer zusammengewürfelten Schar von Außenseitern und Verbannten in der Wildnis unterwegs, sondern auf Reisen, um seine unschuldigen Eltern zu befreien und Freistatt zu finden. Er war nicht einfach nur ein Mörder, der der Gerechtigkeit ein Schnippchen schlug, sondern jemand, der dagegen kämpfte, zugleich mit dem Rest der Welt von den Erlösern ausgesaugt zu werden. Er machte sich nicht nur etwas vor: Es gab Hoffnung für ihn und die, die ihm wichtig waren.
» Thomas, es tut mir leid«, sagte er leise.
Der Rhythmus der Pferdehufe erfuhr keine Unterbrechung.
» Es tut mir leid, was da passiert ist.«
Das meinst du aber nicht ernst, oder?
» Du hattest eine Familie in Neu-Heiligtum, als du noch ein Bekannter meiner Eltern warst, nicht wahr?«
Thomas’ Gesicht
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