Das Wispern der Schatten - Roman
So weit wie möglich, um so sicher wie möglich zu sein. Aber für ihn gab es eigentlich keine Sicherheit mehr, nicht wahr? Je weiter er sich von der Stadt entfernte, desto wilder würden die Wälder werden und desto größer die Bedrohung, die die Heiden und die anderen Geschöpfe des Chaos darstellten, besonders in einer mondlosen Nacht wie dieser. Der finstere, heimtückische Feind hatte wahrscheinlich längst seine Witterung aufgenommen und war auf der Jagd nach ihm.
Er begann zu laufen, so schnell sein schweres Gepäck es ihm gestattete. Die Bäume wichen beiderseits der Straße einer offenen Feldflur. Hier arbeiteten seine Mutter und viele andere Erwachsene tagsüber. Auf dem Feld zur Rechten wuchsen lange Reihen von Kohlköpfen, während das Feld zur Linken brach lag. Jillan mochte Kohl nicht besonders, also ließ er ihn stehen– außerdem hätten die Leute es am nächsten Tag vielleicht bemerkt, wenn ein paar Köpfe gefehlt hätten, und zwei und zwei zusammengezählt.
Er malte sich aus, wie seine Mutter sich auf dem Feld abrackerte, und war in Versuchung, unter den Bäumen jenseits der Felder sein Nachtlager aufzuschlagen, nur um am nächsten Morgen einen Blick auf sie zu erhaschen. Aber der vernünftige Teil seines Verstandes schüttelte an seiner Stelle den Kopf und sagte ihm, dass er schon wieder verrückt wurde. Die Helden würden den ganzen Tag um das Feld herum Wache halten. Er würde in Gefahr geraten, erwischt zu werden, wenn er sich zu nahe heranwagte, und er würde ganz sicher keine Gelegenheit bekommen, mit seiner Mutter zu sprechen.
Weiter. Die Straße führte zwischen den Feldern hindurch, und die Bäume begannen auf beiden Seiten wieder näher heranzurücken. Es wuchs jetzt auch Moos zwischen den Steinplatten. Eindeutig war die Straße von hier an weniger begangen. Und Jillan konnte nichts sehen. Seine Haut prickelte, als die Wälder um ihn herum in den Windböen zu ächzen begannen. Er entfernte sich merklich aus dem wohlgeordneten Umland von Gottesgabe und gelangte in die Wildnis, wo das Chaos lauerte. Es war, als würde er eine ganz andere Umgebung betreten und aus dem Licht und der Zivilisation des Reichs in die dunkle, ungezähmte Welt der spukenden Geister und der uralten heidnischen Magie übergehen. Er hatte den Eindruck, dass kalte Bosheit in der Luft lag und dass er beobachtet wurde. Er musste hart an sich halten, um nicht Hals über Kopf loszurennen– aber er wusste, dass er nicht mehr als fünfzig Schritt weit kommen würde, bevor er vor Erschöpfung zusammenbrach und für die Schreckgespenster, die es auf ihn abgesehen hatten, leichte Beute wurde.
Er lief tiefer in die Dunkelheit hinein, und sein angestrengtes Atmen tönte ihm in den Ohren. Er würde es nicht hören, wenn irgendetwas sich an ihn heranschlich. Weiter! Er musste bis zum Morgen weiterlaufen, dann konnte er sich tagsüber ausruhen. Wenn er nur nachts reiste, würde die Straße für ihn recht sicher sein, und es würde ihm wohl gelingen, die ganze Strecke bis Erlöserparadies zu bewältigen– sofern das Chaos ihn nicht vorher fand.
Aber es fiel ihm schwer, auf den Beinen zu bleiben. Er war immer noch ganz ausgelaugt von dem Zusammenstoß mit Haal. Sein Bündel drückte ihm die Schultern immer weiter nach unten, als wäre es die Last seiner Schuld. Seine Schritte wurden unsicher, und er musste die müden Augen ständig zusammenkneifen, um den Weg vor sich ausmachen zu können.
Plötzlich brach der Schrecken über ihn hinein. Zu seiner Linken ertönte im Wald ein Schrei, der eindeutig nicht menschlich war. Er wusste, dass ihm keine Zeit blieb, seinen Bogen zu spannen und einen Pfeil anzulegen. Er wich sofort nach rechts von der Straße ab und lief auf die einzige Lücke zwischen den Bäumen vor ihm zu, die breit genug wirkte, um hindurchzugelangen… nur, um gegen die Steinmauer eines alten, verfallenen Turms zu prallen. Er wurde zurückgeworfen und landete auch aufgrund des Gewichts seines Bündels unwürdig auf Hinterteil und Rücken.
Keuchend lag er da und starrte blinzelnd das Gebäude an. Wer hat das da hingestellt?, dachte er dümmlich. Dann keuchte er, als ihm aufging, dass seine Verfolger mit jeder Sekunde, die er hier den Dorftrottel spielte, aufholen würden. Hoch mit dir! Aber er hörte nichts in den Wäldern, weder das Knurren und Schnüffeln eines Raubtiers, das seine Spur verfolgte, noch das Rascheln trockener Blätter, die sich in einem Luftzug bewegten, während jemand sich an ihn heranschlich.
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