Das Wispern der Schatten - Roman
ewiger Strafen zu stürzen.
Der Fels begann sich zu verändern und weicher zu werden, und ihr wurde bewusst, dass sie sich dem oberen Ende des Bergwerks und dem, was jenseits davon lag, nähern musste. In dem weichen Erdboden, der an die Stelle des Gesteins trat, gab es sonderbare, sich windende Wesen, aber sie wirkten harmlos. Diese winzigen Dinger waren doch sicher nicht die Hohen Herrscher, oder? Was aber waren sie dann? Sie gruben sich ein, buddelten Tunnel und huschten umher, ignorierten sie aber überwiegend und waren nicht bereit, auch nur eine einzige der Fragen zu beantworten, die Freda ihnen stellte.
Hier gab es mehr Wasser, und die Erde verklebte ihr Ohren, Nase und Augen. Das gefiel ihr nicht, und sie musste an sich halten, um nicht in Panik um sich zu schlagen. Sie stieß sich kräftig mit den Beinen ab und schob sich weiter nach oben, wo es wieder trockener war. Wenigstens hatte die feuchte Erde ihrer lästigen Wunde ein wenig gutgetan. Jetzt bestand das Feste fast aus genauso viel Luft wie Erde.
Und dann brach sie in die größte und hellste Höhle durch, die sie jemals gesehen hatte. Sie erhaschte einen Blick auf eine große, strahlende Scheibe Sonnenmetall irgendwo weit entfernt und hoch oben, war aber ansonsten geblendet, sogar, wenn sie die Augen so fest sie nur konnte zusammenkniff. Als sie das Feste verließ, kam sie sich vor, als ob sie nach oben fiele. Sie verstand nichts von dem, was sie hörte oder roch, und ihre Haut fühlte sich an, als ob sie sich ständig unabhängig von ihr bewegte, weil sie nie überall dieselbe Temperatur hatte.
Sie hatte die fürchterliche Wohnstatt der Hohen Herrscher betreten, einen höllischen Ort, an dem ein unablässiger Krieg tobte. Also gab es eine Hölle unten und eine Hölle oben.
Sie war in Versuchung, ins Fegefeuer des Gesteins zwischen den beiden Höllen zurückzukehren, aber Muhme Widders hatte gesagt, dass die unermüdlichen Bergleute der Hohen Herrscher sie dort früher oder später aufspüren würden. Sie hatte Norfred versprochen, diese obere Hölle zu ertragen, um seinen Sohn zu suchen, also würde sie sie ertragen. Jetzt wusste sie, dass Furcht, Trauer, Schmerz und hässliche Worte nie ein Ende nahmen und für ihresgleichen einfach der Natur des Lebens entsprachen. Warum sonst hätten ihr auch solche Körperkraft und solch ein dickes Fell zugestanden werden sollen?
Heftig keuchend schleppte Jillan sein schweres Bündel durch die dunklen Wälder in der Umgebung von Gottesgabe. Während sein Atem zu Anfang Wölkchen in der kalten Luft gebildet hatte, konnte er ihn jetzt kaum noch sehen– ihm wurde klar, dass er bereits Körperwärme verlor. Reg dich nicht auf, sagte er sich und kämpfte sich dennoch eilig weiter voran.
Er behielt die Stadtmauern stets in Sichtweite, schlug einen Bogen um den Ort nach Norden und fand die Straße. Er hielt sich zwischen den Bäumen parallel zur Straße nach Erlöserparadies, bis Gottesgabe längst außer Sicht war, und wanderte dann auf dem Pflaster aus breiten Steinplatten weiter.
Denk nicht nach. Achte gar nicht auf die seltsamen Geräusche in den Wäldern. Mal dir keine Schrecknisse aus. Geh weiter. Mach dir keine Sorgen darüber, dass du noch nie vorher so weit von zu Hause weg warst. Aber mit diesem letzten Gedanken stahlen sich schleichend andere in seinen Kopf. Natürlich ist es gar nicht mehr dein Zuhause, nicht wahr? Du kannst nie dorthin zurückkehren, wenn du deine Eltern nicht in noch größere Gefahr bringen willst. Sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach ohne dich besser dran … Es sei denn, sie wurden bereits von den Helden in die Bestrafungskammer der Stadt geschleppt, weil sie vom Prediger und von den Ältesten angeklagt worden waren, ihn irgendwo versteckt zu halten. Sollte er umkehren und sich auf Gnade und Ungnade der Stadt anvertrauen, um seine Eltern vor weiterem Leid zu bewahren?
Seine Schritte wurden langsamer. Nicht nachdenken! Geh weiter! Er hob den Kopf und drehte ihn, um die Straße hinter sich entlangzusehen. Einen Moment lang war ihm schwindlig, und ihm wurde bewusst, dass er vor Kälte, Müdigkeit und vielleicht auch Entsetzen unsicher auf den Beinen war. Du denkst nicht klar. Such dir einen Lagerplatz für die Nacht, das ist besser für dich.
Aber er musste einen sicheren Abstand zwischen sich und die Stadt bringen, bevor er sich eine Atempause gönnen konnte. Er ging wieder schnelleren Schrittes in Richtung Erlöserparadies. Wie weit musste er laufen, bis er in Sicherheit war?
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