Das Wispern der Schatten - Roman
am Leben, du bist am Leben! Über ihm drehte sich der Dämmerungshimmel, und Jillan hielt den Blick starr darauf gerichtet, bis er seine Atmung wieder beherrschen konnte.
Er blinzelte und spürte, wie sich eisiger Raureif von seinen Wimpern löste. Sein ganzer Körper war taub, und er erkannte, dass er Glück gehabt hatte, überhaupt aufzuwachen. Es war dumm gewesen einzuschlafen, ohne auch nur die Decke aus seinem Bündel zu holen. Er musste sich so bald wie möglich in Bewegung setzen und wieder aufwärmen.
Als seine Augen sich an das schwache Licht in seinem Loch aus Zweigen und Ästen gewöhnt hatten, stockte ihm abermals der Atem. Schon bevor seine Augen es ihm ganz bestätigten, verrieten ihm sein Instinkt und der eindringliche Nachhall seines Traums, dass er nicht inmitten verrottender Holzhaufen lag. Die glatten Rundungen dieser in regelmäßigem Abstand von einem Hauptstamm ausgehenden Zweige konnten nur … Rippen sein. Und das da drüben war ein Unterschenkelknochen.
Er lag inmitten von Toten, und sie lagen sechs Mann hoch! Entsetzt wich er von der Seite des Lochs zurück, der er am nächsten war, nur um gegen einen schwankenden Haufen hinter sich zu stoßen. In der Annahme, dass etwas nach ihm gegriffen hätte, um ihn an der Schulter zu berühren, ließ er rasch den Kopf herumfahren, zuckte zurück und stieß einen Schreckensschrei aus, als er sich von Angesicht zu Angesicht mit den leeren Augenhöhlen eines Totenschädels wiederfand. Ein vorspringender Unterkiefer löste sich und polterte die Knochenwand herab, um zwischen Jillans gespreizten Beinen zu landen. Der Dorfvorsteher!
Jillan wich ruckartig zurück, aber seine steifen Gliedmaßen gehorchten ihm nicht, und so landete er auf der Nase im aufspritzenden Schlamm. Er legte das Gesicht eines kleineren Schädels, die Schultern des Skeletts und seine obersten Rippen frei. Einiges deutete darauf hin, dass der Tote einmal in Tierfelle gehüllt gewesen war. Der Schamane!
In dem verzweifelten Bemühen, diesem Ort zu entfliehen, kämpfte sich Jillan auf die Beine. Etwas funkelte neben dem Schädel des Dorfvorstehers, obwohl Jillan sich nicht vorstellen konnte, wie es einem Strahl der aufgehenden Sonne gelungen sein mochte, einen Weg hinab in dieses erlöserverlassene Grab zu finden. Es glitzerte erneut, und er hielt inne. Wider besseres Wissen schlich er vorwärts, als würde er sich einer Art Altar aus Knochen nähern, und erspähte die goldverzierte Rüstung des Dorfvorstehers in der Wand.
Er zog vorsichtig daran, bereit zurückzuspringen, falls er in Gefahr war, von den Toten begraben zu werden. Zu seinem Erstaunen löste sich die Rüstung, ohne irgendetwas ringsum zu verschieben. Sie wirkte, als sei sie gerade erst hierhergestellt worden, und ihre seltsamen Verzierungen blendeten ihn und betörten seine Augen.
Er konnte nicht widerstehen, den Panzer anzuprobieren, hob ihn sich über den Kopf und ließ ihn auf seine Schultern sinken. Es war ganz unmöglich, dass die Rüstung des hünenhaften Häuptlings aus seinen Träumen seinem knabenhaften Körper passen sollte, aber sie passte tatsächlich. Sie war auch nicht zu schwer, noch nicht einmal, als er sich das Bündel auf den Rücken schwang. Wenn überhaupt, dann verteilte die Rüstung die Last und verschaffte ihm mehr Bewegungsfreiheit, als er bisher gehabt hatte.
Erfreut über sein Glück und seltsam gestärkt kroch Jillan aus dem dunklen Loch hervor ins warme Licht der Morgensonne. Leichtfüßig rannte er zur Straße, erpicht darauf, das Feld mit den heidnischen Toten weit hinter sich zu lassen. Sie waren zu nahe daran gewesen, ihm alles Leben auszusaugen, ihn für immer unten im wurmdurchsetzten Schlamm und in der Verwesung zu halten und ihn zu einem von ihnen zu machen, aber es war ihm gelungen, ihren kalten Klauen zu entkommen, und er würde das nächste Mal besser aufpassen, wenn das Chaos kam und ihm die Seele zu rauben versuchte.
Die einzige kleine Sorge, die ihn umtrieb, war die, wie erzürnt die heidnischen Geister wohl darüber sein würden, dass er die Rüstung mitgenommen hatte.
Kapitel 3
DENN ES IST UNS ZUGESTANDEN ZU LEBEN
D er heilige Azual schüttelte das warme, benommene Gefühl ab, das damit einherging, wenn er die Magie eines Menschen trank, der volljährig wurde, und wartete mit kaum verhohlener Erregung auf den Augenblick der Ekstase, der stets darauf folgte und ihn nie enttäuschte, obwohl er Azual unweigerlich zu kurz erscheinen würde. Ein Krampf überkam ihn, als die
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