Das Wispern der Schatten - Roman
auf den Heiligen und biss ihm in die Wange, unmittelbar unterhalb seines gesunden Auges.
» Nein!«, kreischte der Heilige mit hoher, mädchenhafter Stimme. » Nicht mein Auge!«
Die Panik ließ den Heiligen wieder zu sich kommen. Gedankenschnell packte er Jeds Verstand und presste ihn fest zusammen. Der Jäger bäumte sich auf und öffnete den Mund in stummer Qual. Der Heilige warf den Hünen von sich, als wäre er nichts als eine Lumpenpuppe. Jed stürzte so schwer zu Boden, dass die Dielen erbebten und eine Staubwolke um ihn aufstieg. Blut lief ihm aus Ohren und Nase.
» Wie kannst du es wagen!«, tobte der Heilige, der bereits wieder auf den Beinen war. » Du wagst es, meine heilige Person anzugreifen? Das ist unfassbar! Wahrlich, du stehst im Banne des Chaos. Und all das hier sollte dich und Maria nur auf die Probe stellen, Jedadiah, denn ich wusste schon die ganze Zeit über, wo Jillan ist. Du hast dich selbst verdammt. Sieh!«
Der Heilige pflanzte Jeds Verstand ein falsches Bild ein, wie Jillan die Tore einer Stadt durchschritt. Benommen, wie Jed war, klammerte er sich an das Bild, wie ein Erstickender sich an seinem letzten Atemzug festhält. Er hat Erlöserparadies unbeschadet erreicht. Jed lächelte, als die Dunkelheit sein Bewusstsein zu umfangen begann.
Der Heilige lachte gehässig. » So, hat er das? Dann hast du mir zumindest gesagt, was ich wissen musste, Jedadiah. Ich werde ihn bald finden, und er wird sich mir willig ergeben, wenn er seine Eltern je wieder atmen sehen will.«
Aspin kämpfte sich durch den Schnee vom Gebirge hinab in die vorgelagerten Hügelketten, in denen knochenbleiche Birken und steingraue Eichen ein wenig Schutz boten. Hier lag der Schnee nicht so tief, und die Luft war wärmer. Es gab sogar ein paar wenige Vögel, die ein oder zwei fragende Töne sangen, um sich zu erkundigen, wohin alle verschwunden waren.
Er folgte dem Verlauf der Vorberge, da sie ihm einen leidlich trockenen Weg über Land verschafften. Als sie dann nach und nach ausliefen, gelangte er zu einem Eibenhain, in dem alles auf dem Kopf stand. Hier gab es Äste, die breiter als die Festhalle in seinem Dorf waren. Sie wuchsen von den Stämmen zu Boden, führten eine Weile flach über die Erde und wanden sich dann in den Himmel empor, um Käfige für die Luft zu bilden. Eine ganze Anzahl von Stämmen war von schweren Ästen, die in beide Richtungen daraus hervorwuchsen, entzweigerissen worden, und ihre grauen Skelette lagen überall. Es war ein Friedhof der Riesen. Doch es war ein ewiger Friedhof, denn aus der Mitte der zerstörten Bäume wuchsen neue empor, von denen viele selbst um diese Jahreszeit blutrote Beeren trugen.
Solche Bäume waren Aspins Volk heilig, denn die Beeren waren so wirkmächtig, dass sie jeden, dessen Haut sie auch nur berührten, in tagelangen Schlaf fallen ließen und ihm quälende Wahnvorstellungen seiner möglichen Zukunft eingaben. Wenn man die Beeren aß oder einen schwachen Sud daraus trank, war das so gut wie immer tödlich. Solch ein uralter Hain aus Bäumen wäre, wenn er sich in den Bergen befunden hätte, für sein Volk ein geheiligter und ewiger Tempel des Geas gewesen.
Aspin stand ehrfürchtig da und lauschte der Stimme des Windes, der in den riesigen, hohlen Leichnamen der Eiben stöhnte. Wenn Aspin würdig gewesen wäre, hätte er die Stimmen und den Willen Wandars von den Wütenden Winden und Gars vom Stillen Stein verstehen können. Hätten die Stimmen ihm geraten, weiterzugehen oder umzukehren? Wurde er gewarnt oder verhöhnt? Oder beklagten die Stimmen den Sturz der Götter durch die Anderen und ihr Reich? Dies hier war ein Zwischenort: zwischen der Ewigkeit und einem Ende, dem Geas und dem Reich, seinem Volk und den Anderen, gottgegebenem Leben und Vergessenheit. Doch Aspin selbst stand weder auf der einen noch auf der anderen Seite, weil er verbannt war und sich in der Schwebe zwischen zwei Reichen befand.
Hier herrschte ein Gefühl ruhigen Wartens, das Frieden näher kam als alles andere, was ihm in seinem Leben begegnet war. Er war in Versuchung, sich zu diesen Riesen und ihren versteinerten blutroten Tränen auf den Boden zu legen, um zu schlafen und bis in alle Ewigkeit von seiner möglichen Zukunft zu träumen… aber er wusste, dass sein verfluchter Magen nur allzu bald unzufrieden knurren und ihn in seiner Ruhe stören würde. Ach, sein Magen war doch ohnehin schuld an all seinem Leid! Er war versucht, ihn sich herauszureißen, damit es ein Ende nahm, ja,
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