Das Wispern der Schatten - Roman
ihm bestellt wurde, war noch nie vorgekommen, solange ihresgleichen auf dieser Welt weilte. Es war so gut wie undenkbar: Wenn der Älteste nicht einverstanden war, würde er vermutlich nicht zögern, sie zu vernichten, sodass die Verfehlung von Neuem undenkbar werden würde.
Doch sie hatte keine Wahl. Sie kam zu dem dicken Steinsiegel, hinter dem der Älteste Thraal begraben lag. Natürlich war es dem Gesinde nicht gestattet, vor das Angesicht eines Ältesten zu treten, da jeder Diener ihn nur hätte besudeln können, aber auch, weil die Macht der Ältesten so beschaffen war, dass jede Lebensenergie in ihrer Nähe von Natur aus zu ihnen gezogen wurde, so wie Luft oder Materie in ein Vakuum eingesogen wurde. Die Diener starben einfach, wenn sie in die Nähe eines Ältesten gelangten. Sogar geringere Erlöser vom Rang der Gesegneten an abwärts vermieden Begegnungen mit den Ältesten, wann immer sie konnten, da die Erfahrung ihnen einen hohen Tribut abverlangte. D’Shaa dagegen, die im Rang einer Geweihten stand, würde nur wenig leiden, sofern die Audienz sich nicht zu lange hinzog.
Als sie die Spalte zwischen Siegel und Felsoberfläche fand, glitt sie hindurch in das große Zimmer dahinter. Der Raum wurde von Kugeln aus Sonnenmetall in jeder Ecke beleuchtet. Eine mit einer Kapuze verhüllte Gestalt saß auf einem Kristallthron. Das Licht spielte langsam durch den verzierten Stuhl. D’Shaa wagte nicht zu atmen.
» Du nimmst es dir heraus, den Wächter der Ältesten zu stören?«, knurrte die Gestalt.
» Ich setze damit meine Existenz aufs Spiel, Erleuchteter.«
» In der Tat, und das, obwohl du noch nicht lange existierst. Eine Jugendtorheit, D’Shaa? Für jemanden deines Ranges ist eine solche Tat unverzeihlich.«
» Ja, Erleuchteter.«
Schweigen senkte sich herab. Sie wartete stundenlang, dann tagelang. Sie hätte wenn nötig auch jahre- oder jahrzehntelang gewartet, aber die Pest würde nicht so lange warten.
» Nein, das wird sie nicht«, hallte die Stimme des Ältesten Thraal in ihrem Verstand wider. » D’Selle hat dich schön in die Falle gelockt, nicht wahr? Du tätest gut daran, jemanden wie ihn zu studieren und von ihm zu lernen. Dein Mangel an Voraussicht und deine Achtlosigkeit in dieser Angelegenheit sprechen nicht für dich, D’Shaa. Schlimmer noch, die Stabilität deiner Region leidet und zieht so die Stabilität des Gesamtreichs in Mitleidenschaft. Wie kannst du es wagen, so nachlässig zu sein! Du bist eine Schande für unsere Art!«
D’Shaa verlor beinahe das Bewusstsein. » Ja, Erleuchteter. Ich verstehe, dass ich einen entsetzlichen Fehler begangen habe, und kenne meine Schwäche. Ich bin zu dir gekommen.«
» Dann sprich, D’Shaa, denn es werden wahrscheinlich die letzten Worte deiner schändlichen Existenz sein. In deinem Verstand gibt es undeutliche Echos von etwas, das du gern versuchen würdest, aber seine möglichen Auswirkungen auf die Zukunft sind so unklar, dass es nicht leicht zu erfassen ist. Wofür bittest du um Erlaubnis?«
Ihre Zunge lag wie ein Stein in ihrem Mund. » Erleuchteter, ich möchte darum bitten, dass der Sonderbare in den Süden entlassen wird!«
Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie angenommen, dass der Älteste angesichts dessen sprachlos war, etwas, das bei jemandem, der mit fast jedem Lebewesen auf dieser erbärmlichen Welt verbunden war, doch wohl unmöglich war.
» Du weißt nicht, was du da verlangst!«, donnerte der Älteste und tötete sie so beinahe. » Du kannst es nicht wissen!«
» Nein, Erleuchteter«, wimmerte sie und stellte sich auf ihr Ende ein.
Der Älteste schwieg wieder. Tage verstrichen.
» Kind, der Sonderbare war schon lange vor uns hier. Er ist selbst nach unseren Maßstäben uralt, vielleicht so alt wie das Chi’a. Bete darum, dass er nie seine Aufmerksamkeit auf dich richtet, denn er ist ein wandelnder Weltuntergang. Wenn wir ihn tatsächlich auf das Reich loslassen, laufen wir Gefahr, es zu zerstören– und zugleich auch das Geas, sodass in dieser Welt nichts als nackter Fels zurückbleibt. All unsere Streifzüge, Beobachtungen und Wartezeiten wären umsonst gewesen. Nicht einmal der Große Erlöser könnte die Zerstörung aufhalten. Und keiner von uns hier würde auch nur eine Sekunde länger existieren dürfen, als die Vernichtung dauert, es sei denn, der Große Erlöser wäre darauf erpicht, uns mit einer ewigen Hölle zu strafen. Und doch willst du, D’Shaa, den Sonderbaren auf den Süden loslassen,
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