Das Wispern der Schatten - Roman
oder die Ärmel hochkrempelten, um ihm zu helfen, das Rad wieder anzubringen.
» Wer braucht da noch das Chaos, hm?« Ash zwinkerte Jillan zu. » Die Leute sind mehr als in der Lage, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Komm schon, lass uns dort entlanggehen.«
Ash führte ihn nach links in eine schmale Gasse, der sie ein Stück weit folgten. Die hölzernen Gebäude auf beiden Seiten waren überwiegend zweistöckig und ragten über die Straße, so dass Regen und Unrat, der von oben kam, weit von den Haustüren entfernt landeten. Die Gosse quoll vor verrottendem Gemüse, Früchten, Haarballen und Schlimmerem über. Ein räudig aussehender Hund fraß etwas Unkenntliches, und eine verärgerte Ratte quiekte ihn dafür an. Ein nacktes Kleinkind, dem der Rotz aus der Nase lief, saß auf einer Türschwelle und prügelte mit einem Stock auf den Kadaver eines Nagetiers ein.
» Bei den Erlösern, das stinkt vielleicht!« Jillan würgte, und ihm schossen Tränen in die Augen.
» Oh, daran gewöhnt man sich, und was einen nicht umbringt, macht einen nur stärker«, erwiderte Ash fröhlich. » Es ist nicht das wohlhabendste Viertel der Stadt, gewiss, und könnte hier und da einen neuen Anstrich gebrauchen, aber hier bekommt man zugleich das billigste Bier.«
» Wir sind zum Biertrinken hier?«, fragte Jillan laut und blieb stehen.
» Was?«, sagte Ash, während eine Frau aus einer Tür hervortrat; an einer ihrer entblößten Brustwarzen nuckelte ein Säugling. Sie lächelte Ash an und machte dann einen Schmollmund, als ob das Kind ihr zugleich Freude und Schmerz verursachte. » Ich… äh…« Ash blinzelte und zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf Jillan zu richten. » Hör mal, dahinten gibt es ein paar Wirtshäuser«, sagte er mit gesenkter Stimme, » in denen wir nach deinem Freund, diesem Thomas, fragen und Leute bitten können, die Augen nach deinen Eltern offen zu halten, ohne dass die Helden der Stadt darauf aufmerksam werden. Einer der Wirte mag meine Holzschnitzereien und nimmt sie mir gewöhnlich im Tausch gegen einen guten Tropfen ab– es sei denn natürlich, du hast Silber bei dir, mit dem wir Informationen kaufen können oder das Bier, das wir brauchen, um anderen die Zungen zu lösen. Wie ist das, hast du viel Silber dabei?«
Jillan schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. » Was ist mit dem Jungen, den die Helden angegriffen und mitgenommen haben?«
» Was soll schon mit ihm sein?«, antwortete Ash ungerührt.
» Na, es war doch meine Schuld, dass er verhaftet worden ist. Sollten wir nicht sehen, was wir unternehmen können, um ihm zu helfen?«
Ash blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. » Bist du wahnsinnig? Was glaubst du denn, was wir unternehmen können, wenn die Helden der Stadt ihn haben?«
» Ach, ich weiß nicht«, musste Jillan eingestehen. » Aber wir können doch herausfinden, wohin sie ihn gebracht haben, nicht wahr?«
» Sieh mal«, sagte Ash im Ton übertriebener Geduld, » wir wissen nicht sicher, dass sie ihn für dich gehalten haben. Vielleicht wurde er wegen eines Diebstahls oder so etwas gesucht. Und wenn sie einen Fehler gemacht haben, wird ihnen das bald auffallen, und sie werden ihn freilassen, nicht wahr? Ihm passiert schon nichts. Hör auf, dir Sorgen um andere Leute zu machen, Jillan, wenn du besser daran tätest, dir Gedanken um dich selbst zu machen. Findest du nicht, dass du so schon genug um die Ohren hast? Jetzt komm.«
Jillan folgte ihm, und obwohl er nicht ganz zufrieden mit der Art war, wie Ash alles für sie beide entschied, hatte er seiner Argumentation doch für den Augenblick nichts entgegenzusetzen. Außerdem hatte Jillan keinen eigenen Plan, wie er darangehen sollte, Thomas Eisenschuh oder seine Eltern in einer Stadt zu finden, die so groß wie Erlöserparadies war. Er kannte niemanden und wusste auch nicht, welche Spielregeln hier galten. Da er also kaum eine Wahl hatte, als sich fürs Erste an Ash zu halten, beschloss er, das Beste daraus zu machen. Er war auch neugierig, wie so ein Wirtshaus eigentlich aussah, denn er hatte in Gottesgabe nie eines besuchen dürfen. Wirtshäuser waren Orte, an denen Erwachsene sich offen über die Dinge unterhielten, die sie gewöhnlich nur mit gesenkter Stimme besprachen, wenn Kinder dabei waren, Orte, an denen Menschen sangen und an Winterabenden am hellen, warmen Feuer würfelten, Orte, an denen Männer und Frauen tranken, bis sie fröhlich wurden, Orte, an denen verbotene Verabredungen stattfanden. Sie
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