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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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Papierstreifen. Es war eine einfache Vorsichtsmaßnahme, die er immer traf, wenn er ausging: Er klemmte ein Stück Papier zwischen Tür und Rahmen und riss das überstehende Stück so weit ab, dass es nur jemand entdecken konnte, der wusste, wo es saß.
    Er legte das Ohr an die Tür und lauschte. Ob der Einbrecher noch in der Wohnung war? Als er nichts hörte, steckte er vorsichtig den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn langsam um. Ebenso langsam schob er die Tür auf. Kein Laut drang aus der Wohnung. Das Bad und sein Schlafzimmer waren leer. An der Wohnzimmertür lauschte er erneut, bevor er überzeugt war, dass niemand dahinter auf ihn lauerte und sie aufstieß. Mit drei Schritten war er beim Sofa, fiel auf die Knie und tastete mit einer Hand nach dem Buch.
    Es war verschwunden!
    Enrique duckte sich unter das Sofa und suchte die Unterseite ab. Einer der Klebestreifen, mit denen er die Plastikhülle mit Viktor Vaus Notizbuch befestigt hatte, hing noch von einer der Holzstreben herunter. Er drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Außer Viktor, Marek und Astarte wusste niemand, dass er das Buch in seinem Besitz hatte. Und natürlich Christian, dem der Inhalt allerdings nicht bekannt war. Wieso sollte er also bei ihm einbrechen?
    Aber wer war es dann? Viktor sicher nicht, denn der befand sich in der Gewalt de Moulinsarts. Marek? Immerhin hatte er Kontakte zum Geheimdienst. Allerdings konnte er es nicht selbst gewesen sein, denn Enrique war die ganze Zeit mit ihm zusammen. Blieb nur noch Astarte. Enrique legte die Stirn in Falten. Weshalb sollte Astarte Viktors Notizbuch stehlen? Als seine Assistentin hatte sie doch sowieso direkten Zugang zu Viktors Forschungsergebnissen. Oder hatte sie in Viktors Auftrag gehandelt? Hatte er ihr, noch vor seiner Entführung, aufgetragen, ihm das Wörterbuch wieder abzunehmen? Aber warum?
    Das ergab alles keinen Sinn. Er musste mit Astarte sprechen. Hastig wählte er ihre Nummer. Er ließ es lange läuten, aber sie hob nicht ab.
    Er entschloss sich, zu ihrer Wohnung zu gehen, auch wenn es bereits kurz vor zwei Uhr war. Gleich nach dem Treffen mit Marek und de Moulinsart war er zurück ins Bistro geeilt, wo er die zweite Hälfte von Christians Spätschicht übernahm. Das war sozusagen die Strafe für den Tag, an dem er mit Astarte und Viktor abgehauen war.
    Es war natürlich verrückt, jetzt noch zu ihr zu laufen, aber nach der Begegnung mit dem Mann des Sicherheitsdiensts (Enrique hatte in einer kurzen Servierpause schnell im Netz nach ihm gesucht und tatsächlich zahllose Einträge gefunden) und dem Diebstahl des Wörterbuchs war er nervös. Wenn sie ihn aufgespürt hatten, dann sicher auch Astarte. Vielleicht befand sie sich bereits in den Händen der Dienste?
    Auf dem Weg zu Astartes Wohnung schossen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Die meisten davon hatten mit dem Treffen morgen zu tun. Was würde de Moulinsart sagen, wenn er ohne Viktors Notizbuch aufkreuzte? Es war unwahrscheinlich, dass er ihm glauben würde. Enrique hätte das in seiner Situation wahrscheinlich auch nicht getan. Die Frage war nur, was sie mit Viktor anstellen würden, wenn er das Wörterbuch nicht brachte. Würden sie ihm etwas antun? Und würde er, Enrique, den Ort des Treffens als freier Mann verlassen können?
    Er erreichte Astartes Wohnung und klingelte. Keine Reaktion. Er klingelte erneut und trat ein paar Meter vom Haus zurück, um zu sehen, ob irgendwo ein Licht anging. Aber alle Fenster blieben dunkel.
    Noch einmal versuchte er es über das Telefon, aber diesmal sprang nur die Mailbox an. Er hinterließ eine kurze Nachricht und machte sich dann langsam auf den Weg nach Hause.
    Nach einer schlaflosen Nacht, in der er tausend Pläne gewälzt und wieder verworfen hatte, quälte er sich im Morgengrauen aus dem Bett und stellte sich unter die kalte Dusche. Danach unternahm er einen letzten Versuch, Astarte zu erreichen, aber erneut war nur die Mailbox dran. Ob sie schon bei der Arbeit war? Am liebsten wäre er jetzt sofort zur Klinik rausgefahren, aber dafür reichte die Zeit nicht mehr. Das Treffen mit Viktor und de Moulinsart fand in weniger als zwei Stunden statt, und er wollte gerne etwas früher an Ort und Stelle sein, um die Umgebung zuvor noch zu erkunden.
    Die Adresse, die ihm de Moulinsart gegeben hatte, war ein heruntergekommenes Fabrikgebäude am Rande des Calvaniviertels.

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