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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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Lichtschein das kleine Schlafzimmer erhellte, beruhigte er sich wieder.
    Seit Monaten verfolgten ihn diese Albträume. Immer begannen sie harmlos, mit einem Spaziergang durch die Stadt, und immer endeten sie gleich, nämlich mit der völligen Auflösung all dessen, was eigentlich stabil und unverrückbar sein sollte.
    Mit der Vernichtung der Welt.
    Enrique rieb sich die Augen, warf die Decke beiseite und ging die paar Schritte bis zum Fenster. Er zog den Vorhang zur Seite und warf einen Blick auf die Umrisse der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Alles war noch genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Er ließ den Vorhang wieder fallen und gähnte. Die Leuchtziffern seines Weckers zeigten ihm, dass es fünf Uhr war. Sollte er sich wieder hinlegen? Er war von Natur aus ein Frühaufsteher, also konnte er auch gleich aufbleiben.
    Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und begab sich ins Bad. Die Erinnerung an den Traum ließ sich allerdings nicht mit einer kalten Dusche wegspülen, und so brütete er den halben Tag in einer gedrückten Stimmung über sein Leben und seine verborgenen Ängste nach.
    Gegen Mittag verließ er seine Wohnung, um die Nachmittagsschicht im Bistro anzutreten. Die Arbeit tat ihm gut. Für einen normalen Nachmittag in der Woche war das Lokal gut gefüllt, und er hatte endlich keine Zeit mehr, über seinen Traum nachzudenken. Als er sich kurz nach fünf Uhr von Christian den Lohn für seine Schicht auszahlen ließ, war sein Kopf frei von dunklen Wolken, und er sah den kommenden Stunden in freudiger Erwartung entgegen.
    Eine Stunde später stand er im Zentrum eines kleinen Platzes am Rande des Belletroviertels. Die Häuser rund um das Areal waren im neo-viktorianischen Stil gebaut. Es gab eine ganze Reihe von Themenplätzen in diesem Teil der Stadt, die berühmte Baustile der Vergangenheit wieder aufleben ließen, komplett mit Kopfsteinpflaster und simulierten Gaslaternen. Die Ähnlichkeit mit der Geschichte endete allerdings direkt hinter der Fassade. Die Gebäude waren normierte Zweckbauten, denen man eine attraktive Schale verpasst hatte. Selbst die verwendeten Materialien hatten nichts mit den zitierten Epochen gemein. Die meisten Fassaden bestanden aus Aluminiumverbundplatten, die entsprechend lackiert worden waren. Es war dem Hersteller sogar gelungen, Struktureffekte so täuschend nachzubilden, dass man schon ganz nah herantreten musste, um zu erkennen, dass es sich um eine Imitation handelte.
    Enrique warf einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr. Es war jetzt zwei Tage her, dass sie sich im Studio X getroffen hatten, und er fragte sich, ob Astarte ihn versetzen würde. Vielleicht hatte sie dem Treffen nur zugestimmt, um ihn loszuwerden.
    Die Metrostation spuckte in endlosen Wellen Passagiere durch die Ausgänge rechts und links von ihm aus. Enrique blickte sich suchend um, konnte Astarte aber nicht entdecken. Er hatte sich extra in der Mitte des Platzes postiert, um nicht den Überblick zu verlieren.
    Â»Hey!«
    Enrique fuhr herum. Vor ihm stand Astarte und lächelte ihn an.
    Â»Ich dachte schon, du kommst nicht«, antwortete er.
    Sie deutete auf die Uhr über dem Eingang zur Metro. »Es ist gerade mal zehn nach sechs. Hast du noch nie was von der akademischen Viertelstunde gehört?«
    Â»So war das nicht gemeint.« Enrique ärgerte sich sogleich über seine Bemerkung. Die wenigsten Menschen teilten seine Leidenschaft für Pünktlichkeit. Und Astarte offenbar auch nicht.
    Â»Schön, dass du jetzt da bist«, fügte er hinzu. »Ich habe mir den ganzen Abend freigehalten.«
    Sie kniff die Augen zusammen. »Ich hoffe nur, du machst dir keine falschen Hoffnungen. Ich habe nicht vor, die Nacht mit dir zu verbringen.«
    Â»Nein, nein. Ich meine nur, dass ich keine Termine mehr habe und das Warten mir deshalb nichts ausgemacht hat.«
    Astarte musterte ihn stirnrunzelnd. »Beruhigend«, sagte sie schließlich. »Und, was machen wir?«
    Â»Wir könnten in eins der Cafés hier am Platz gehen«, schlug er vor.
    Sie überlegte kurz. »Welches schlägst du vor?«
    Enrique zeigte auf ein Café, das das Thema der Bebauung aufnahm und als englische Teestube dekoriert war. »Du weißt ja, when in Rome …«, sagte er.
    Â»Du meinst, wenn schon fake , dann auch richtig?« Astarte lachte. »Na gut. Bei einem Tee kann man so viel

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