Das Wörterbuch des Viktor Vau
ich auch. Aber es würde zu weit führen, das zu erklären.«
»Weil ich es nicht verstehen würde?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, weil es eine lange, komplizierte Geschichte ist, die ich selbst noch nicht ganz verstanden habe. SchlieÃlich bin ich nicht vom Fach.«
»Was also hat eine Linguistin mit psychisch Kranken zu tun?«
»Nun, Sprache hat sehr wohl etwas mit geistiger Gesundheit zu tun. Wir denken gröÃtenteils in Worten, auÃer vielleicht in unseren Träumen. Das bedeutet, wir strukturieren die Welt durch unsere Gedanken, die wiederum durch Worte ausgedrückt werden. Wenn bei dieser Strukturierung etwas schiefläuft, befindet sich der Betroffene in einer anderen Welt als die, in der sich die geistig Gesunden bewegen. Er wird als geisteskrank bezeichnet, obwohl er lediglich ein Problem mit der Sprache hat.«
Enrique dachte darüber nach. »Das kann aber nur dann zutreffend sein, wenn die Sprache nicht logisch und unmissverständlich ist. Doppeldeutigkeiten sind keine Notwendigkeit. Eine Sprache kann durchaus so aufgebaut sein, dass sie Unklarheiten von vornherein ausschlieÃt.«
»Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können«, lächelte Astarte. »Und damit weiÃt du auch, was ich als Linguistin in einer psychiatrischen Klinik tue.«
»Du bringst den Patienten eine neue Sprache bei.«
Sie nickte. »Wenn eine unklare Sprache wirklich die Ursache für psychische Erkrankungen ist, dann müsste eine klare Sprache die Patienten wieder gesunden lassen. Und Professor Vau hat eine solche Sprache entwickelt.«
Enrique zog die Augenbrauen hoch. »Professor Vau? Viktor Vau?«
»Du kennst ihn?« Astarte machte ein ebenso überraschtes Gesicht wie er.
»Aber ja. Er kommt jeden Tag zum Frühstücken in das Bistro, in dem ich arbeite. Ein eigentümlicher Mensch.«
»Das sagt der Richtige. Aber Vau ist eben ein Wissenschaftler. Und wenn man aus dem Nichts eine völlig neue Sprache entwickelt, muss man schon ein wenig eigentümlich gelagert sein, findest du nicht?«
»Mag sein. Ich kenne mich mit Wissenschaftlern nicht so aus. Habt ihr denn schon Resultate erzielt?«
»Bisher noch nicht. Die Versuche ziehen sich hin, weil die Patienten zunächst die für sie neue Sprache lernen müssen. Und auÃerdem bin ich noch nicht so lange dabei und habe noch keinen Ãberblick.«
Enrique goss sich Tee nach. »Wenn man diese These fortdenkt, müssten alle Menschen diese neue Sprache lernen, und es würde viele Geisteskrankheiten nicht mehr geben.«
»Das wäre eine Katastrophe!«, rief Astarte entschieden.
»Aber es ist die logische Schlussfolgerung aus dem, was du mir gerade erklärt hast.«
»Das gilt für Kranke, aber doch nicht für Gesunde!«
»Da bin ich ganz anderer Meinung. Eine exakte Sprache bringt doch auch im alltäglichen Leben nur Vorteile. Es gäbe keine Missverständnisse mehr bei der Kommunikation, jeder Mensch würde klar denken, und alle Probleme würden rational und einhellig gelöst.«
Astarte starrte ihn an. »Glaubst du das wirklich?«
Enrique breitete die Arme aus. »Es ist einfach nur logisch.«
»Und die Zweideutigkeiten? Das Spiel mit der Sprache? Die Unvollkommenheit? Ist es nicht gerade das, was uns menschlich macht?«
»Ich weià nicht.« Enrique kratzte sich am Kopf. Er war sich wirklich nicht sicher, wie die richtige Antwort auf diese Frage lautete. »Alles hat natürlich seinen Preis. Man muss sich darüber klar werden, ob man bereit ist, diesen Preis zu bezahlen.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Du willst mich provozieren, stimmtâs?«
Er mochte ein Anfänger sein, wenn es um Frauen ging, aber Enrique wusste, wann es klug war, den Rückzug anzutreten. Er setzte sein versöhnlichstes Grinsen auf.
»Erwischt. Ich wollte nur sehen, wie du aussiehst, wenn man dir ein wenig auf die Zehen tritt.«
»Und, wie sehe ich aus?«
»Hübsch.«
»Ach.« Ihre Gesichtszüge entspannten sich etwas. »WeiÃt du, du erinnerst mich mit deiner Argumentation fast ein wenig an Professor Vau.«
»Ist das gut oder schlecht?«
Astarte zuckte unentschlossen mit den Schultern. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr.
»Ich muss gleich los. Bringst du mich noch zur Metro?«
»Ich begleite dich auch bis vor die Haustür.«
»Nein danke.«
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