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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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Kehle herunterrinnen ließ, dachte er an die bevorstehenden Tage.
    Es würde sehr anstrengend werden.

zu:
Log des Protektors

    Lange habe ich mich gefragt, ob ich dieses Log schreiben soll. Es ist mehr die Gewohnheit, die mich dazu treibt, als die Notwendigkeit. Denn im Gegensatz zu meinen anderen Aufträgen wird niemand diese Aufzeichnungen lesen oder Nutzen daraus ziehen können. Allein deshalb, weil ich sie in einer toten Sprache niederschreibe.
    Ich habe mir diese Sprache, die so anders ist als meine, in den letzten Monaten mühsam angeeignet. Sie arbeitet mit unendlich vielen Einheiten, mit Artikeln oder Pronomen, die das Lernen erschweren und die komplett überflüssig sind. Was aber viel schwerer wiegt, ist die Tatsache, dass diese Sprache ungenau ist. Missverständnisse in der Kommunikation gehören hier zum Alltag und müssen entweder mühsam ausgeräumt werden oder setzen sich, mit oft dramatischen Konsequenzen, fort.
    Natürlich wusste ich, was mich hier erwartet. Aber der Schock war dennoch enorm. Präzision und Vollständigkeit fehlen dieser Sprache völlig, aber nicht genug damit: Die Menschen setzen diese Ungenauigkeit zielgerichtet ein, um das zu konstruieren, was sie Wortspiele, Witz oder Ironie nennen. Es ist fast, als sei ich auf einem fremden Planeten gelandet, dessen Bewohner nicht nur fremdartig sprechen, sondern auch über eine völlig andere Struktur des Denkens verfügen.
    Und das ist meine große Furcht. Denn Denken und Sprechen sind untrennbar miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Durch das Eintauchen in diese unvollkommene Sprachwelt ist es durchaus möglich, dass sich mein Denken ebenfalls verändert. Und dies könnte ungeahnte Folgen für meinen Auftrag haben.
    Vor allem, weil auch die Stimmen nicht mehr da sind.
    Bereits jetzt bemerke ich, wie ich beginne, in dieser Sprache zu denken. Ich wehre mich dagegen, und wenn ich allein bin, führe ich laut Gespräche mit mir selbst, in meiner alten Sprache, um sie nicht zu vergessen. Aber ohne die Möglichkeit einer regelmäßigen Kommunikation wird sie im Laufe der Jahre mehr und mehr in mir verkümmern.
    Das Führen eines Logs war eines der ersten Dinge, die uns bei unserer Ausbildung beigebracht wurden. Ich sehe noch genau meinen Ausbilder vor mir. Er hieß Julian Daniels und war ein in Ehren ergrauter Agent. Wir nannten ihn nur Juli , im Gegensatz zu Augusta Sandler, der Kryptografieexpertin, die natürlich August war.
    Juli und August waren Praktiker. Sie hatten jahrzehntelang an der Front gekämpft, bis sie mit ihren jetzigen Posten für ihre gute Arbeit belohnt worden waren.
    Â»Das Log ist die Nabelschnur des Protektors«, wurde Juli nicht müde uns einzutrichtern. »Wenn ihr im Einsatz seid, seid ihr auf euch allein gestellt. Sollte euch etwas zustoßen, verliert sich eure Spur. Mithilfe des Logs können wir zumindest nachverfolgen, wo ihr euch zuletzt aufgehalten und was ihr herausgefunden habt. Schon viele Agenten sind durch das Log gerettet worden.«
    Juli war es auch, der mich rekrutiert hatte. Ich war damals im siebten Semester und hatte die Lust am Studieren verloren. Eigentlich machte ich nur weiter, um meine Eltern nicht zu enttäuschen, die sich das Geld für meine Ausbildung mühsam von ihren bescheidenen Einkommen abgezweigt hatten. Ich hatte mich für Mathematik, Informatik und Computerlinguistik entschieden, weil mir das die Fächer zu sein schienen, die meinen Neigungen am ehesten entsprachen, musste aber schnell feststellen, dass eine Begeisterung fürs Programmieren als Motivation für ein Studium nicht ausreichend ist.
    Eines Tages fiel mir am Schwarzen Brett der Fakultät ein Aushang ins Auge. Er kündigte eine Veranstaltung namens Ausbruch aus dem Elfenbeinturm an, was sich interessant genug anhörte, um mich abends nach meinen Seminaren dorthin zu führen. Außer mir waren zehn andere Studenten zugegen. Am Dozentenpult saß ein kleiner grauhaariger Mann mit militärischem Haarschnitt, der eine Nickelbrille und eine rote Strickjacke trug. Sein Gesicht war sonnengegerbt und wies zahlreiche Lachfältchen auf. Er sah aus wie ein freundlicher Großvater, der darauf wartet, dass sich seine Enkel zum allabendlichen Vorlesen setzen. Nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Aber das wussten wir damals noch nicht.
    Â»Die Akademiker sind die Stützpfeiler des

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