Das Wörterbuch des Viktor Vau
Staates«, begann er seinen Vortrag. »Sie erziehen die Massen und sorgen mit ihren Erkenntnissen für die Weiterentwicklung der Gesellschaft. Zudem ist es ihre Aufgabe, durch wissenschaftliche Beweisführung allen Bürgern die Ãberlegenheit unserer Staatsform vor Augen zu führen. Welche Tätigkeit könnte also wertvoller für das Gemeinwesen sein?«
Er legte eine Kunstpause ein und blickte jedem von uns in die Augen. Auch wenn wir wussten, dass dies eine rein rhetorische Frage war, fühlten wir uns unter seiner Beobachtung doch unwohl.
»Die Wertvollste aller Tätigkeiten ist der Schutz des Staates«, fuhr er fort. »Natürlich ist das die Aufgabe eines jeden Bürgers, eines jeden Beamten und eines jeden Polizisten. Ich hingegen spreche von denjenigen Männern und Frauen, die bereitwillig ihr Leben für unseren Staat geben. Ich spreche nicht von Bezahlung. Ich spreche auch nicht von Arbeitszeiten, Urlaub und Pension. Und ich spreche nicht von Ruhm oder Medaillen. Nein, die Tätigkeit, von der ich spreche, ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Wer nicht bereit ist, ihr sein ganzes Leben, seine gesamte Energie und alles, was er oder sie besitzt, zu opfern, der hat bei uns nichts verloren. Ich will Ihnen nichts vormachen. Um ein Protektor zu werden, müssen Sie nicht nur zu all dem bereit sein. Sie müssen auch darauf gefasst sein, zu scheitern. Wir werden Sie den härtesten Prüfungen unterziehen, die Sie sich nur vorstellen können. Wir werden Sie körperlich und geistig an Ihre Grenzen führen und darüber hinaus. Es wird Momente geben, da werden Sie nichts sehnlicher wünschen, als tot zu sein. Und erst wenn Sie das alles überstanden haben, werden Sie ein Protektor sein.«
Schon während seines Vortrags hatten drei Teilnehmer den Raum verlassen. Das schien ihn nicht im Geringsten zu stören. AnschlieÃend gab es die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Nachdem keiner mehr etwas wissen wollte, forderte er Interessenten auf, im Raum zu bleiben. Ich war einer von zwei Teilnehmern der Veranstaltung, die sich für den Dienst als Protektor bewarben. Juli nahm unsere Daten auf und bestellte uns für die folgende Woche zur Aufnahmeprüfung in eine Kaserne am Stadtrand. Mein Mitstudent fiel durch. Warum ich bestand, weià ich selbst nicht, denn ich hatte bei vielen der Tests das Gefühl, kläglich zu versagen.
Als mir Juli eröffnete, ich sei angenommen, empfand ich eine Freude wie schon lange nicht mehr. Endlich hatte mein Leben eine Richtung bekommen! Juli hatte mir zugesagt, dass ich mein Studium nach Abschluss meiner Grundausbildung fortsetzen könne. »Auch bei den Protektoren benötigen wir Leute mit Verstand«, waren seine Worte.
Meine Eltern waren anfangs skeptisch, aber als ich ihnen deutlich machte, dass meine neue Tätigkeit nicht das Ende meiner Studien, sondern lediglich eine Unterbrechung bedeutete, waren sie einverstanden mit meiner Wahl. Sie hätten mich sowieso nicht davon abhalten können, doch ihre Zustimmung war wichtig für mich. Ich denke, sie waren insgeheim auch froh darüber, dass sie jetzt mehr Geld für sich zur Verfügung hatten, denn als Protektor erhielt ich vom ersten Ausbildungstag an ein ordentliches Gehalt.
Die Protektoren waren irgendwo zwischen dem Militär und der Polizei angesiedelt. Sie waren eine Elitetruppe eigener Art. Während es eine Reihe von Spezialkommandos gab, deren Fähigkeiten in erster Linie im körperlichen Bereich lagen, waren wir eine Mischung aus Einzelkämpfern und Undercoveragenten, aus Leibwächtern und Intellektuellen.
»Es gibt für einen Protektor keinen Einsatz, der einfach ist«, erinnerte uns Juli immer wieder. »Vergesst die Klischees, die ihr aus Fernsehen und Kino kennt. Protektoren werden immer wieder aufs ÃuÃerste gefordert, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die seit Jahren mit falscher Identität im Untergrund leben und keinen Kontakt zu ihrer Familie oder ihren Freunden haben. Andere sitzen seit Monaten an der Entwicklung statistischer Verfahren, die zutreffendere Prognosen versprechen als heute. Und wieder andere schweben in den Randgebieten täglich in Lebensgefahr, weil sie an der vordersten Front mit den örtlichen Polizeikräften arbeiten.«
Solche Aussagen schreckten uns nicht, sondern förderten unsere Motivation. Und davon brauchten wir auch genug,
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