Das Wörterbuch des Viktor Vau
aber er war immer noch allein in der Halle. Als er sich wieder der Kapsel zuwandte, blickte er in das Gesicht eines Mannes.
Viktor schreckte zurück, bevor er erkannte, dass es sich lediglich um ein Bild handelte.
Der Mann mochte Mitte zwanzig sein. Er trug einen grauen Umhang, dessen Schnitt ungewöhnlich wirkte, obwohl Viktor nicht sagen konnte, woran das lag. Bevor er dazu kam, der Frage weiter nachzugehen, räusperte sich der Mann und fuhr sich mit der Hand durch die mittellangen blonden Haare. Er wirkte nervös wie jemand, der sich zum ersten Mal in der Situation befindet, vor einem Publikum zu sprechen.
»Wer immer Sie auch sein mögen«, begann der Mann. »Dies ist unsere Botschaft an Sie.«
Und was er dann sagte, sollte Viktor für den Rest seines Lebens den Schlaf rauben.
4.
Flavio Volante stand vor dem Spiegel und bürstete sorgfältig seinen Bart aus. Es war bereits zwei Uhr morgens, und er hätte schon vor Stunden im Bett liegen sollen. Aber Brodhagen und seine Leute hatten keine Ruhe gegeben, und er hatte mit ihnen noch bis tief in die Nacht zusammensitzen müssen.
Erneut musste er an Viktors merkwürdiges Verhalten denken, als er ihn endlich aus dem Forschungszentrum abgeholt hatte. Viktor hatte bereits am Tor auf ihn gewartet und während der Rückfahrt kein einziges Wort gesprochen.
»Nun, weiÃt du jetzt, warum ich um deine Anwesenheit hier gebeten habe?«, hatte Volante ihn schlieÃlich gefragt, als sie in der Hotelhalle standen.
Statt einer Antwort hatte Viktor nur gebrummt.
»Weil ich vermute, dass es sich bei dieser Sprache um eine Kunstschöpfung handelt. Und zwar nicht um irgendeine Sprache, sondern um eine, die deiner verdammt ähnlich ist.«
»Ich denke, da täuschst du dich«, hatte Viktor geflüstert. »Alle Plansprachen weisen gewisse Ãhnlichkeiten miteinander auf.«
»Aber hier handelt es sich offensichtlich nicht um eine reine Plansprache, sondern um ein System mit realcharakteristischer Notation wie bei Wilkins und dir.«
Viktor hatte müde den Kopf geschüttelt und war dem Blick seines Kollegen ausgewichen.
»Und selbst wenn es etwas völlig anderes ist, du bist der beste Experte auf diesem Gebiet, den ich kenne. Hast du denn irgendwas mit dem Text anfangen können?«
»Nichts. Jede Kunstsprache ist anders, und nur der Erfinder weiÃ, wie sie aufgebaut ist.«
Volante hatte seine Enttäuschung nicht verbergen können. »Dir ist also gar nichts aufgefallen? Kein Ansatzpunkt, von dem aus wir uns weiter vorarbeiten könnten?«
»Ein Buch mit sieben Siegeln.« Viktor hatte kurz aufgeblickt. »Und jetzt würde ich gern zu Bett gehen, wenn du nichts dagegen hast. Es war ein langer und anstrengender Tag für mich.«
Mit diesen Worten war er in den Fahrstuhl gestiegen und in sein Stockwerk gefahren.
Jetzt, da Volante sich die Episode noch einmal durch den Kopf gehen lieÃ, kam ihm das Verhalten seines Freundes schon seltsam vor. Aber vielleicht war es wirklich nur die Erschöpfung durch die lange Anreise und das ungewohnte Klima gewesen.
Volante marschierte zum Bett und schlug die Decke zurück. Sorgfältig inspizierte er das Bettlaken und den Platz unter dem Kissen, bevor er sich mit einem mühsamen Grunzen auf die Knie lieà und unter das Bett sah. Er hatte irgendwo einmal gelesen, dass Giftspinnen, Skorpione und Schlangen sich gerne in Hotelbetten versteckten, und obwohl er in den zehn Tagen seiner Anwesenheit in Agua Caliente nichts dergleichen entdeckt hatte, hielt er sich doch an sein allabendliches Ritual.
Er richtete sich gerade wieder auf, als jemand heftig an seine Zimmertür klopfte. Volante trug lediglich Unterwäsche und Socken. Er griff zum Morgenmantel, der am Schrank hing. Während er sich in die Ãrmel hineinkämpfte, klopfte es erneut.
»Moment!«, rief er und stapfte zur Tür. »Wer ist da?«
»Viktor«, klang es dumpf durch das Holz.
Mit einer unwilligen Handbewegung öffnete Volante die Tür. Viktor drängte sich hindurch und drückte sie sofort wieder hinter sich zu.
Sein Gesicht war aschfahl. Er war noch immer mit seinem Anzug bekleidet, hatte offenbar keine Minute im Bett verbracht, und über seiner Schulter hing eine Reisetasche.
Viktor griff Volante am Oberarm. »Du musst mir helfen, Flavio«, bedrängte er seinen Kollegen. »Ich muss sofort aus Agua Caliente
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