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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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waren weitgehend unbekannt; bei knapp tausend Bewohnern wäre bald herausgekommen, wer das Verbrechen begangen hatte. Natürlich, zu Beginn der Besiedlung hatten die Menschen ihre Häuser abgeschlossen, so wie sie es auch am Erdboden getan hatten. Aber von einer Generation zur nächsten waren solche Sicherheitsvorkehrungen immer überflüssiger geworden. Schließlich hatte man alle Schlösser ausge baut und sie zusammen mit den Schlüsseln und anderem Alteisen eingeschmolzen, um lebenswichtige Gerätschaften wie Pflüge und Spaten zu schmieden.
    Der Schlüssel an Sandro Mirandolas Gürtel war aber nicht nur aus diesem Grund ungewöhnlich. Er war größer als Alessias Hand, auffällig gezahnt und sein Schaft so dick wie drei ihrer Finger nebeneinander.
    Sie fragte sich, ob sie womöglich – ganz buchstäblich – den Schlüssel zu ihrer Freiheit in Händen hielt.
    Die Tatsache, dass die Inspektoren all die Jahre über sehr wohl einen Weg ins Innere der Pumpen gekannt haben mussten, erschien ihr im Augenblick unbedeutend. Mit zitternden Fingern schnallte sie sich den Gürtel des Toten samt aller Vorräte um, vermied es, noch einmal sein Gesicht anzusehen, und machte sich an den Aufstieg. Oben angekommen brach sie vor Anstre n gung beinahe zusammen. Doch statt der Versuchung nachzu geben, einfach einzuschlafen und dabei kostbares Licht zu verschwenden, machte sie sich sogleich auf die Suche.
    Die Tür war von innen viel leichter zu finden als von außen. Tatsächlich war da ein Schlüsselloch, etwa auf Höhe ihrer Brust. Alessia stieß einen Jubellaut aus und schob den Schlüssel hinein.
    Er passte nicht.
    Sie versuchte es wieder und wieder. Ohne Erfolg.
    Sie fluchte; sie brach in Tränen aus; sie trat gegen die Tür und beschimpfte sie wie ihren ganz persönlichen Feind. Es half alles nichts. Der dumme Schlüssel mochte zu allem Möglichen gehören, vielleicht zu einer Truhe in Mirandolas Haus. Die Freiheit jedenfalls brachte er Alessia nicht.
    Während der nächsten Stunden versuchte sie es dennoch immer wieder, so als könnte allein ihr Wille den verdammten Schlüssel in eine passende Form schmelzen. Schließlich sank sie mit dem Rücken an der Tür zu Boden, weinte bitterlich und schlief irgendwann ein.
    Als sie wieder erwachte, war die Lampe erloschen. Bald begann sie, im Dunkeln eine Waffe daraus zu machen, ohne Glas, mit scharfem Metallrand. Das half ihr nicht weiter, beschäftigte aber ihre Hände und, in gewissem Maß, ihren Verstand. Ein gutes Mittel gegen die Verzweiflung, und sie war stolz darauf, dass sie trotz allem nicht in Panik verfiel.
    Das alles war am zweiten Tag geschehen. Gestern.
    Heute, gestärkt von trockenem Brot, fettiger Wurst und scha r fem Käse, beschloss sie, sich in der Finsternis zur Wendeltreppe vorzutasten. Irgendetwas hatten der Schattendeuter Oddantonio Carpi und der Pumpeninspekteur oben im Turm zu tun gehabt. Es musste einen Grund für ihren Aufstieg geben.
    Und vielleicht ein zweites Schlüsselloch.
    Alessia kroch auf allen vieren durch die Schwärze, langsam, um nicht in den Schacht zu stürzen. Schließlich fand sie den Rand des Abgrunds, dann den schmalen Steg zur Wendeltreppe. Einmal dort angekommnen, richtete sie sich auf und tastete sich am Geländer entlang nach oben, Windung um Windung. Sie verlor jegliches Gefühl für die Höhe. War sie erst fünfzehn oder schon fünfzig Meter über dem Boden? In der Schwärze hätten es tausend sein können, und es hätte keinen Unterschied gemacht.
    Sie versuchte, sich an das genaue Äußere der Aetherpumpen zu erinnern. Wie oft hatte sie daran hinaufgeschaut – und doch fiel es ihr jetzt schwer, sich die Einzelheiten vor Augen zu führen. Das lag unter anderem daran, dass die Pumpen so unendlich hoch waren; kein Wunder, dass ihre Fundamente entsprechend tief ins Innere der Wolkenberge reichten.
    Sie schob ihre Gedanken beiseite und horchte. Etwas war anders als zuvor. Die Laute ihrer Stiefelsohlen auf den Eisenst u fen hatten mit einem Mal einen anderen Klang. Das metallische Klirren hallte kaum noch nach.
    Wenig später erkannte sie den Grund.
    Sie war ans Ende der Wendeltreppe gelangt. Vorsichtig ließ sie sich wieder auf alle viere hinab und schob sich langsam über eine ringförmige Balustrade, die an der Innenseite der Pumpe n wand entlanglief.
    Sie benötigte eine halbe Ewigkeit, ehe sie die Tür fand. Dort entdeckte sie ein ovales Metallplättchen, das sich an einem Scharnier zur Seite schieben ließ.
    Ein dürrer

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