Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
der Wälder.
KRANICHFLUG
D er Riesenkranich knickte die dürren schwarzen Beine ein und ließ sich auf dem Boden nieder. Li stieß sich mit einem grote s ken Sprung vom Boden ab und landete auf seinem Rücken. Kaum vorstellbar, dass ein so filigranes Tier einen Mann von Lis Größe und Gewicht tragen sollte. Während ihrer zehn Monate unter Menschen hatte Nugua viele schwere Männer gesehen, aber keiner kam an die Ausmaße des Unsterblichen heran. Sie erwartete, dass der Kranich unter ihm zusammens a cken würde wie ein Wasserschlauch, aus dem man auf einen Schlag den gesamten Inhalt presste. Stattdessen aber wollte sich der Vogel sogleich erheben, mit einer Mühelosigkeit, als hätte Li nicht mehr Gewicht als ein Stück Papier.
Der Xian schob seine Lanze in eine Art Köcher an der Seite des Kranichs, dann beugte er sich zur weiß gefiederten Schläfe des Vogels vor und flüsterte etwas. Sogleich knickte das Tier die Beine ein und sank zurück auf den Boden. Li schaute zu Nugua herüber und deutete auf den schmalen Streifen Gefieder, der hinter ihm noch frei war, kaum mehr als eine Handbreit. » Steig au f «, sagte er.
Nugua wechselte einen unsicheren Blick mit Feiqing. Der Rattendrache hob abwehrend beide Hände. » Geh nu r «, sagte er hastig. » Ich bleib gerne allein zurück, wirklich. Das macht mir nichts aus. «
Li hatte angeboten, einen von ihnen mit hinüber zu den Tü r men zu nehmen. Dass Feiqing mit seinem plumpen Rattendrachenleib dafür nicht in Frage kam, war offensichtlich. Selbst Nugua würde Mühe haben, sich auf dem winzigen freien Platz hinter dem Unsterblichen zu halten. Über dem Lavasee abzurutschen war keine besonders erhebende Vorstellung.
Der Kranich wandte den Kopf und sah Nugua an, als wollte auch er sie auffordern, endlich aufzusteigen. Er klapperte mit seinem gelben Schnabel, länger als ein Schwert, und stieß ein leises Gurren aus.
» Was ist nun? «, fragte Li voller Ungeduld. Sein Blick suchte wieder Himmel und Türme ab, auf der Suche nach seiner Gegnerin Mondkind. Bislang war sie nirgends zu sehen. Dennoch schien er jeden Augenblick mit ihr zu rechnen.
Nugua gab sich einen Ruck und trat auf den Kranich zu. Aus dem Gurren wurde ein meckerndes Geräusch, das beinahe wie schadenfrohes Gelächter klang.
» Wirklic h «, sagte Feiqing noch einmal und schaute über das karge Felsplateau, » m ir gefällt es hier sehr gut. Was sollte ich in den Türmen? Ich würde doch eh nur im Weg stehen. Lieber warte ich hier, bis ihr zurückkommt. « Allein die Vorstellung, auf dem Riesenvogel über die Lava zu reiten, hatte ihm einen solchen Schreck eingejagt, dass er sich erst einmal hatte setzen müssen. Seitdem war er nicht wieder aufgestanden, so als fürchtete er, irgendwer könnte es sich doch noch anders überl e gen und ihn auffordern, an Nuguas Stelle hinter Li auf den Kranich zu steigen.
Sie machte den letzten Schritt und berührte das grau e G efi e der. Unmittelbar hinter dem schmalen Streifen, auf dem sie sitzen sollte, bauschten sich die dunklen Schwanzfedern des Kranichs auf; sie sahen nicht aus, als könnten sie Nugua halten, falls sie hinterrücks abglitt.
Li half ihr beim Aufsteigen. » Halt dich gut an mir fes t «, sagte er und ergriff die Zügel. » Feiqin g «, rief er über die Schu l ter. » Rühr dich nicht von der Stelle. So nah bei der Lava ist es nicht ungefährlich. «
Feiqings Freude darüber, dass er vom Flug über die Lava verschont blieb, verpuffte auf einen Schlag. Seine Braue zuckte nach oben. » Ach ja? «
» Denk an die Wesen, die uns letzte Nacht angegriffen h a ben. « Li zwinkerte ihm zu. » Ich glaube nicht, dass sie sich so weit vorwagen. Aber man weiß nie, wie hungrig sie gerade sind. «
Feiqing ruderte mit den Armen, während er sich von seinem Hinterteil erhob. » Was? … Heh! Lasst mich nicht allein! «
Aber da stieg der Kranich bereits vom Boden auf und glitt über die Kante des Plateaus hinweg. Nugua krallte sich angs t voll in Lis Gewänder. Sein breiter Rücken fühlte sich solide an wie eine Steinmauer. Schaudernd warf sie seitlich einen Blick nach unten, sah den Fels nach hinten entschwinden und spürte, wie das Hitzewabern der Lava sie erfasste. Unter ihnen war jetzt nur noch kochende Glut. Es war, als flögen sie über die Oberfl ä che der Sonne.
» Du hast doch unter Drachen geleb t «, rief Li nach hinten, scheinbar unberührt von der Hitze. » Bist du denn nie auf einem geflogen? «
» Nein. « Obwohl
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