Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Lichtstrahl fiel durch das Schlüsselloch, das daru n ter zum Vorschein kam.
Der Schlüssel passte. Der Türmechanismus klackte zweimal hintereinander. Alessias Herz schlug so schnell, dass sie kaum Luft bekam. Ihre Knie zitterten, und plötzlich hatte sie wieder Tränen in den Augen, diesmal vor Aufregung.
Die Tür schwang nach außen auf. Tageslicht flutete als grelle Woge herein. Für einen Moment fühlte es sich beinahe massiv an, als wollte es Alessia rückwärts über die Brüstung des Innenschachts spülen, zurück in den schwarzen Abgrund.
Sie brauchte lange, ehe sich ihre Augen allmählich an das Licht gewöhnten. Erst dann erkannte sie, dass vor ih r e in breiter Absatz lag, eine Art Stufe rund um die Außenseite der Aethe r pumpe. Gleich über ihr begann der schwarze Eisenfühler und setzte sich nach oben hin in den Himmel fort, bis er unsichtbar wurde. Vom Wolkenboden aus hatte er immer sehr filigran gewirkt, doch aus der Nähe stellte Alessia fest, dass er breiter war als ein Wagenrad. Seine Oberfläche war nicht glatt, sondern von einer netzartigen Struktur überzogen.
Als sie nach unten blickte, verschlug es ihr den Atem. Sie befand sich mindestens zweihundert Meter über dem Gipfel des Wolkenberges, vielleicht sogar noch weiter oben. Es gab keinen Vergleichspunkt, nichts an dem sie ihre Schätzung hätte festmachen können. Nur so ein Gefühl: zweihundert Meter. Oder das Doppelte? Eigentlich hatte sie nicht die leiseste Ahnung.
Fest stand nur, es war hoch.
Ganz sicher hoch genug, um sie in die Tiefe zu ziehen, wenn sie zu nah an die Kante trat. Es gab ein Geländer, aber das war so dünn und niedrig, dass es von unten aus nicht zu sehen war und selbst hier oben wie ein schlechter Witz wirkte. Die Winde wehten scharf und empfindlich kühl, und eine heftige Böe mochte durchaus in der Lage sein, einen Menschen wie ein Fliegengewicht in den Abgrund zu reißen.
Alessia blieb in der Tür stehen, auch aus Angst, sie könnte zuschlagen, und schaute sich um. Noch immer gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit, und es dauerte eine Weile, ehe sie weit genug in die Ferne blicken konnte.
Weit unten im Wolkental, zwischen den fünf weißen Gipfeln der Insel, erkannte sie winzige dunkle Punkte. Di e H äuser der Ortschaft. Irgendwo dort musste ihr Vater rasend sein vor Sorge um sie. Sicher schwärmten seit zwei Tagen Suchtrupps über die Wolken, um sie zu finden. Wahrscheinlich führte der Schatte n deuter selbst einen davon an, um die Männer auf eine falsche Fährte zu locken. Oder aber er hatte Wichtigeres zu tun. Sie erinnerte sich an seine Worte:
Der Aether befiehlt.
Wie konnte der Aether etwas befehlen? Hatte Carpi den Verstand verloren? Aber er hatte auf sie nicht den Eindruck eines Verrückten gemacht, ganz im Gegenteil.
Der Aether befiehlt.
Alessia schauderte.
Und dann entdeckte sie noch etwas. Vielleicht war es eine Täuschung, weil sie das umliegende Felsengebirge noch nie aus dieser Perspektive gesehen hatte. Aber je länger sie auf die drei dunklen Gipfel blickte, von denen die Wolkeninsel festgehalten wurde, desto größer wurde ihre Gewissheit.
Die Insel verlor an Höhe.
Der nächstliegende Gipfel, unweit des Hofs der Spinis, ragte weiter über den Rand der Wolken hinaus als zuvor. Von hier oben aus hatte Alessia einen vollkommenen Überblick. Wenn sie die Augen zusammenkniff, erkannte sie Einzelheiten in der Struktur der Felsen – bestimmte Granitnasen, tiefe Rinnen und gezackte Spalten –, die sich vor drei Tagen noch auf Höhe der Wolkeninsel befunden hatten. Jetzt lagen sie ein gutes Stück darüber, fünfzig Meter. Eher hundert.
Die Insel sank. Sie rutschte an den Flanken der Berge hinab, tiefer in das darunter liegende Tal. Es gab nur ei ne einzige Erklärung dafür. Und obwohl sie alle damit gerechnet hatten, traf sie Alessia wie ein Schlag ins Gesicht.
Die Ränder der Wolkeninsel lösten sich auf! Die Insel schrumpfte, und mit jedem Meter, den sie kleiner wurde, rutschte sie tiefer zwischen die Berge.
Auf die Baumgrenze zu. Auf die Wälder.
Jenen entgegen, die darin lebten.
Alessia hatte sie gesehen. Vierarmige Bestien aus Holz und Harz und Astwerk. Sie hatte nicht die geringsten Zweifel, was das Volk der Hohen Lüfte erwartete, wenn es diesen Wesen in die Klauen fiel.
Mit einem Durchatmen sank sie auf die Knie, stemmte die Ellbogen auf die Oberschenkel und vergrub das Gesicht in den Händen.
Selbst hier oben, hoch über den Wolken, hörte sie die gierigen Schreie
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