Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
das Seitenschiff der Bibliothek und standen bald wieder am Tor. Wisperwind schaute sich wehmütig um. » So viel Wissen. Irgendwer sollte das alles in Sicherheit bringen. «
» Wo könnte es sicherer sein als inmitten eines Lavasees? «, fragte Niccolo.
Die Kriegerin nickte langsam. » Vielleicht hast du Recht. «
Nugua drängte zum Aufbruch. » Kommt, zurück nach oben. Li wird schon auf uns warten. «
» Mir gefällt nicht, dass er uns angelogen hat. « Niccolo blieb vor dem Tor zur Bibliothek stehen. » Warum hat er uns nicht früher gesagt, wer er wirklich ist? «
Nugua wich seinem Blick aus. Zwar hatte sie ihm erzählt, dass sich Li als einer der Unsterblichen offenbart hatte, aber sie hielt es auch jetzt noch für besser, nicht z u e rwähnen, dass er Niccolo als Lockvogel für Mondkind benutzt hatte. Bislang hatte Niccolo die Aufregung um den Lageplan des Drachenfriedhofs zu sehr beschäftigt, um die richtigen Fragen zu stellen. Aber sie fürchtete, dass er jeden Moment von selbst dahinter kommen konnte.
» Li kann dir selbst alles erklären. « Ihr Blick kreuzte den Wisperwinds, und da begriff sie, dass die Kriegerin sie durc h schaut hatte. Wisperwind trug Mondkinds Schwerter, die beiden letzten Waffen auf dieser Insel, die einem Unsterblichen gefährlich werden konnten. Li würde darauf bestehen, sie zu vernichten. Wisperwind würde das nicht zulassen. Und falls Mondkind tatsächlich auftauchte, war die Katastrophe perfekt. Wer stand dann auf wessen Seite? Und wer würde gegen wen kämpfen?
» Wir müssen uns beeile n «, sagte sie, wich Wisperwinds prüfendem Blick aus und eilte voraus die Treppe hinauf, insgeheim darauf hoffend, dass Niccolo ihr folgte.
Tatsächlich hörte sie ihn einen Augenblick später hinter sich auf den Stufen, atmete erleichtert auf, wagte aber nicht, über die Schulter zurückzublicken. Sie war sicher, dass er gerade die richtigen Schlüsse zog. Spätestens wenn sie oben ankamen, würde er erkannt haben, dass Li ihnen nur aus einem einzigen Grund geholfen hatte.
Um Mondkind zu töten.
* * *
Der Unsterbliche stand am Rand der Plattform und blickte nach Süden. Er hatte die Lanze neben sich aufgepflanzt und hielt sie am ausgestreckten Arm. Lavaglanz spiegelte sich auf den Doppelspitzen der Sichelklinge.
Der Kranich stieß ein warnendes Krächzen aus, als die drei die Treppe heraufkamen, Nugua und Niccolo atemlos, Wisperwind nicht einmal verschwitzt.
Li drehte sich nicht zu ihnen um. » Da seid ihr ja. Und ihr habt jemanden mitgebracht. «
Nugua schloss für einen Herzschlag die Augen, als sie hörte, wie hinter ihr die beiden Klingen aus den Scheiden glitten. Als sie sich langsam umdrehte, stand Wisperwind mit überkreuzten Schwertern an der Kante des Treppenschachts und blickte dem Xian entgegen.
» Du musst Wisperwind sei n «, sagte Li, noch immer mit dem breiten Rücken zu ihnen. » Vom Clan der Stillen Wipfel. «
» Das bin ich. «
» Ich will keinen Streit mit dir. «
» Kampflos werde ich dir Jadestachel und Silberdorn nicht überlassen. «
Seine Schultern hoben und senkten sich schwer; sie alle hörten sein Seufzen über das Säuseln der Hitzewinde hinweg. » Die Schwerter bedeuten mir nichts – solange du es bist, die sie führt, Clanmeisterin. «
Niccolo schaute von einem zum anderen, dann verharrte sein Blick auf dem Unsterblichen. Anklagend zeigte er auf Lis Rücken. » Du willst Mondkind umbringen. Ist es nicht so? «
Nugua war froh, dass sie ihm nicht in die Augen sehen musste. Ganz sicher nahm er ihr übel, dass sie ihm die Wahrheit verschwiegen hatte. Nun tat es ihr beinahe Leid – für einen Augenblick. Dann packte sie Wut auf ihn und seine blinde Verliebtheit.
Drohend verstellte sie ihm den Weg, als er auf Li zuge hen wollte. » Du weißt nicht mal, wer sie ist! Du vertraust ihr, weil sie ein hübsches Gesicht hat und sie dich mit einem Fluch belegt hat. Du führst dich auf wie ein Narr, Niccolo. « Genau wie du selbst, dachte sie bei sich. Lass ihn in Ruhe. Vergiss ihn einfach. » Sie hat fünf von Lis Brüdern und Schwestern getötet. Sie ist eine Mörderin. Und, verdammt nochmal, du verteidigst sie auch noch! «
Wisperwind hatte sich unmerklich entspannt, hielt aber die Schwerter noch immer vor ihrem Körper gekreuzt. » Sie hat die Götterschmiede erschlagen und in den Lavasee geworfen. Genau wie alle ihre Waffen. « Sie zog die Nase hoch; wie alle anderen hatte sie viel zu viel Ruß eingeatmet. » Dummerweise hat sie das getan, bevor
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