Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Gewicht schien er Niccolo noch fester auf das bizarre Gefährt zu pressen. Gut so, denn sonst hätten alle gesehen, wie sehr sein hämmernder Herzschlag seinen ganzen Körper erzittern ließ.
Der Abschied fiel kurz aus. Alessia ließ sich nicht wieder blicken. Der Herzog appellierte noch einmal an Niccolos Verantwortungsgefühl, dann gaben die Männer der Flugmasch i ne einen Stoß. Das wunderliche Gefährt schlitterte scharrend die Rampe hinunter – und stürzte im nächsten Augenblick ins Leere.
WISPERWIND
N iccolo stieß einen lang gezogenen Schrei aus, als die Kante der weiße Wolkenmasse unter ihm davonglitt. Statt ihrer war da mit einem Mal nur noch der Abgrund, ein weites Panorama aus diesig verhangenen Baumwipfeln und Felsen. Das Tal zwischen den Berggipfeln erstreckte sich unwegsam von einem Hang zum anderen. Innerhalb eines Augenblicks sackte Niccolo so weit ab, dass das Band des Flusses hinterm Horizont verschwand.
Der Wind schlug von unten gegen die Schwingen. Niccolo glaubte, die unsichtbaren Gewalten würden die Flügel der Maschine nach oben knicken, einschließlich seiner festgeschnü r ten Arme. Doch dann zeigte die spezielle Form der Konstruktion ihre Vorteile, und während er noch panisch bemüht war, die Schwingenbewegungen in einen rhythmischen Takt zu lenken, brachte sich der Luftschlitten wie von selbst in eine ruhigere Lage.
Er hatte sich den Abgrund immer als großes Nichts vorgestellt, doch nun schien es ihm, als hätte die Struktur der Luft Ähnlic h keit mit den Schalen einer Zwiebel. Ohne sein Zutun legte sich das Fluggerät horizontal auf eine dieser unsichtbaren Schichten, verlor weiter an Höhe, beugte sich aber gleichzeitig vorwärts, so als glitte es einen abschüssigen Hang hinunter.
Niccolo bewegte die Schwingen so schnell und gleichmäßig, wie er nur konnte, war aber nie sicher, wie groß sein Anteil am stabilen Flug der Maschine wirklich war. Fast hatte er das Gefühl, der Luftschlitten flöge von ganz allein. Erst als er einmal zu lang in die Tiefe starrte und vor lauter Schwindel und Übelkeit aus dem Takt geriet, musste er schmerzlich erkennen, dass die Schwingen keineswegs nutzlos waren: Sogleich stürzte das Fluggerät ein gutes Stück abwärts, so ruckartig, dass er abermals aufschrie, diesmal noch länger, und vor Schreck so starr wurde, dass er das Flügelschlagen beinahe vergaß.
Im letzten Moment bekam er sich selbst und die Maschine wieder unter Kontrolle und glitt weiter auf gewölbten Luf t schichten abwärts.
Er mochte die Hälfte der Entfernung zum Boden zurückgelegt haben – ohne auch nur halbwegs einschätzen zu können, wie viel Zeit vergangenen war –, als ihm bewusst wurde, dass ihm die größten Schwierigkeiten erst noch bevorstanden. Aufgeregt suchte er vor und unter sich nach einer Stelle, an der er den Luftschlitten unbeschadet aufsetzen konnte. Aber da waren nur Bäume, so dicht, dass er nicht sehen konnte, was unter ihren Wipfeln lag. Und natürlich die Felsspitzen, die sich überall wie Grabsteine aus dem Wald erhoben, die meisten so hoch wie Türme, mit zerklüfteten Spitzen und schroffen, schrundigen Steilwänden.
Einmal glaubte er, Bewegungen auf dem Gestein zu erkennen, so als rase etwas flink darüber hinweg, an den Fels geklammert wie die Affen, die er aus den Büchern seines Vaters kannte.
Dann aber war er wieder mit dem drängenden Problem seiner Landung beschäftigt – und zugleich wurde ih m k lar, dass es keine Landung geben würde. Nur einen Absturz. Denn wohin er auch sah, nirgends gab es eine Lichtung. Und selbst wenn er eine gefunden hätte, wäre es ihm wohl schwerlich gelungen, den Luftschlitten exakt dorthin zu lenken. Zwar hatte er mittlerweile herausgefunden, dass er sich mithilfe der Pedalen in die eine oder andere Richtung steuern ließ, doch waren diese Bewegu n gen holprig und ungenau. Dazu kam seine wachsende Angst vor dem Aufprall, die es ihm nahezu unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen oder gar Neues über die Funktionen der Maschine herauszufinden.
Dennoch – als er beide Füße zugleich in ihren Pedalengurten nach unten drückte, bemerkte er, dass sich die Nase des Schli t tens unmerklich hob. Dadurch stieg er nicht wieder auf, bremste aber die Abwärtsbewegung ein wenig, was ihm immerhin kostbare Zeit verschaffte, um weiter nach einer Landemöglic h keit zu suchen.
Doch er mochte noch so lange nach Breschen und Öffnungen im Walddach suchen, es waren einfach keine zu sehen. Er
Weitere Kostenlose Bücher