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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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besser ging als erwartet. Alles schmerzte, aber nicht so sehr, dass er nicht hätte laufen können. Beunruhigt schaute er sich um. Die Baumkronen raschelten und rauschten. Vorhin, von oben, hatte er geglaubt, das sei der Wind, der durch die Zweige fuhr. Aber vielleicht bewegte sich etwas ganz anderes zwischen den Ästen. Im Geiste sah er wieder die Wellenbewegungen des Laubes unter sich, und es verschlug ihm fast den Atem, als ihm klar wurde, dass das Dach des gesamten Waldes in Aufruhr gewesen war. Als sprängen dort Scharen von Kreaturen von Baum zu Baum. Eine Völkerwanderung. Sie strömten aus allen Himmelsrichtungen herbei.
    Raunen, hörte er wieder ihre Stimme. Dämonen.
    Überstürzt sprang er auf, auch ohne ihre Hilfe!
    Wisperwind schenkte ihm ein Grinsen. Sie war nicht größer als er, aber mindestens zehn Jahre älter. Auch ihre Mundwinkel waren vernarbt, als hätte jemand vor langer Zeit versucht, ihr ein Lachen ins Gesicht zu schneiden.
    » Los jetzt! « Sie lief voraus, ohne sich zu erkundigen, ob dies auch seine Richtung war. Und natürlich hätte er eh nur zugeben müssen, dass er gar nicht recht wusste, in welche Richtung er wollte.
    Er packte seinen Rucksack, der neben ihm zwischen den Wurzeln lag, und schaute noch einmal nach oben. Die Lich t punkte im Blätterdach reichten nicht aus, den Himmel darüber zu erspähen. Er hätte gern die Wolkeninsel von unten gesehen, aber dazu waren die Laubkronen zu dicht. Vielleicht später.
    Ein entsetzliches Kreischen hallte von irgendwoher durch die Wälder, gefolgt von einem zweiten und dritten in unterschiedl i chen Richtungen.
    » Sie sind auf dem Weg hierher «, rief Wisperwind, als sie ihn am Arm packte und mit sich zog.
    » Du kannst sie verstehen? «
    Sie schüttelte den Kopf. » Das war ihr Jagdschrei. «
    Während er hinter ihr durchs Unterholz brach, war da mit einem Mal ein Gedanke, der ihm eigentlich gleich beim Aufw a chen hätte kommen müssen. » Warum bin ich nicht schlimmer verletzt? … Ich meine, ich kann laufen! «
    » Nicht mehr lange, wenn die Raunen dich fangen «, entgegnete sie ungeduldig.
    » Wie hast du mich gerettet? «
    » Sei jetzt still. «
    » Aber – «
    Sie blieb stehen und wirbelte herum. » Du willst doch nicht, dass es mir Leid tut, deine Haut gerettet zu haben, oder? Also halt den Mund! « Sie wandte sich ab, schaute dann aber noch einmal finster zurück. » Und gib, bei allen Geistern, Acht, wohin du deine ungeschickten Füße setzt! Raunen hören die Äste auf der anderen Seite des Tales brechen. «
    Er presste die Lippen aufeinander und folgte ihr. Wisperwind blickte immer wieder nach oben – warum setzt e s ie dazu nicht diesen lästigen Strohhut ab? –, blieb dann und wann stehen, um zu horchen, sprach aber kein Wort mehr mit ihm.
    Allmählich lernte er zu schätzen, dass er auf den Wolken in einer Landschaft ohne Bäume aufgewachsen war. Welchen Zweck hatten sie schon, außer einem mit ihren Zweigen ins Gesicht zu peitschen? Erst recht, wenn jemand vor einem lief, der keine Rücksicht auf zurückschnellende Äste nahm.
    Sie mochten eine Stunde gerannt sein, vielleicht länger, ehe Niccolo jegliches Zeitgefühl verlor. Die Lichtspeere aus dem Blätterdach veränderten ihren Winkel und erloschen. Die Sonne musste hinter der Wolkeninsel verschwunden sein. Schlagartig wurde es noch düsterer, zumal auch der Nebel zäh zwischen den Bäumen hing wie Spinnweben.
    Raunenschreie gellten jetzt aus allen Richtungen durch den Wald. Einmal wuchs grauer Stein vor ihnen empor, eine jener Felsnadeln, mit denen er während seines Fluges fast kollidiert wäre. Er erinnerte sich an das Gewimmel in den Schatten und Spalten und war heilfroh, als die schweigsame Kriegerin unverzüglich die Richtung änderte.
    Niccolos Verletzungen machten ihm zu schaffen. Wisperwind hatte ihm Verbände aus Blättern angelegt, je einen an jedem Unterarm, einen weiteren am Oberschenkel, wo seine Hose einen breiten Riss aufwies. Sie hatte ihn demnach aus- und wieder angezogen. Weshalb hatte sie sich all diese Mühe gemacht, da sie ihn doch jetzt beständig ignorierte?
    » Warte! «, keuchte er schließlich, beugte sich mit rasselndem Atem vor und stemmte die Handflächen auf die Knie. » Ich kann nicht mehr. «
    » Wenn die Raunen dich – «
    » Das hab ich verstanden «, unterbrach er sie. » Ich brauche trotzdem eine Pause. «
    Sie sah ihn wieder finster an, und für einen Augenblick glau b te er wirklich, dass sie in Erwägung zog, ihn

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