Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
schätzte seine Entfernung zu den höchsten Wipfeln jetzt auf etwa zweihundert Meter.
Plötzlich war einer der Felsen vor ihm, tauchte auf wie aus dem Nichts, eine breite, zerfurchte Masse, die nach oben hin spitz zulief. Wenn er es nicht seitlich daran vorbei schaffte, würde er unweigerlich an dem Gestein zerschellen. Unter ihm zischten die Baumkronen dahin, eine wuchernde Masse aus Grün. Nebeldunst hing zwischen den Ästen, der es selbst aus der Nähe unmöglich machte, bis zum Boden zu sehen. Der Gege n wind wehklagte in seinen Ohren, ein Heulen und Kreischen, das ihm den letzten Rest seiner Konzentration raubte.
Der Felsen kam immer näher. Niccolo versuchte, nach rechts zu steuern, viel zu heftig, was den Luftschlitten dazu brachte, sich seitlich zu stellen, dem Wind entgegen. Er bockte und überschlug sich fast, sackte ein gutes Stück abwärts und berührte eine Baumspitze. Zweige schlugen in sein Gesicht. Dünne hellgrüne Blätter fetzten von den Ästen und umhüllten ihn wie Insektenschwärme. Es war, als würde der Wald selbst nach ihm greifen, mit dürren, knorrigen Händen, die sich aus der Masse der Bäume reckten und in der Luft nach ihm fingerten.
Augenblicke später gaben sie ihn wieder frei, und er begriff, dass er über eine Hügelkuppe hinweggejagt war. Als sich das Land abrupt senkte, blieben auch die Bäume unter ihm zurück. Das Blättermeer wellte sich in heftigen Winden, die von den Bergen herabfauchten. Die Zweige beugten sich mal hierhin, mal dorthin, als wollten sie Niccolo eine Richtung weisen, um im nächsten Moment ihre Meinung zu ändern und ihn zu verhöhnen.
Mit einem Mal war die gigantische Felsspitze nicht länger vor, sondern direkt neben ihm. Haarscharf rauschte er an der zerfurchten Oberfläche vorüber – sein verzweifeltes Manöver hatte ihn gerettet. Erneut bemerkte er Bewegungen, tief in den schwarzen Spalten. Etwas schien blitzschnell über den nackten Fels zu klettern, um dann abermals in den Schatten abzutauchen. Doch ein weiterer Blick war ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte. Er hatte genug damit zu tun, den Luftschlitten auf Kurs zu halten.
Dann war er an dem Felsen vorüber. Vor ihm lag abermals ein Ozean aus Baumwipfeln. Die höchsten Zweige reckten sich ihm bis auf drei, vier Mannslängen entgegen.
Vor ihm schoss etwas Dunkles, Gigantisches empor wie eine riesenhafte Blüte, die sich aus dem Wald heraufschob und zu enormer Weite öffnete – ein Vogelschwarm, aufgeschreckt von dem, was da heranraste. Die Tiere bildeten eine kreischende, flatternde Wand vor Niccolo. Er brüllte sie an zu verschwinden und musste gegen den Reflex ankämpfen, mit den Armen um sich zu schlagen. Damit hätte er beinahe einen Absturz herbe i geführt, aber er fing sich noch einmal und tauchte wie ein Geschoss in den Pulk der schreienden Vögel ein.
Von einer Sekunde zur nächsten waren sie überall um ihn herum. Schnäbel hackten spitz in seine Haut, Krallen scharrten über ihn hinweg, und einmal verfing sich etwas in seinem Haar, zog und zerrte an ihm, kam los und blieb zurück. Der Voge l schwarm explodierte auseinander. Die wirbelnde Masse öffnete sich wie ein Vorhang.
Die Bäume lagen nicht länger unter, sondern vor ihm.
Pfeilschnell bohrte sich der Luftschlitten ins Dickicht der Wipfel. Peitschende Zweige hieben nach Niccolo. Rasierme s serscharfe Astspitzen wollten ihm die Haut von den Knochen schneiden. Seine Arme wurden von den Schwingen gerissen, die Schlaufen an seinen Füßen lösten sich. Überall um ihn herum barst Holz. Er vermochte nicht zu sagen, ob sich die Maschine in ihre Bestandteile auflöste oder ob das die Laute des Waldes waren, den sie mit ihrer Geschwindigkeit niedermähte.
Dann traf ihn etwas wie ein Hammer an der Schulter, riss ihn von der hölzernen Plattform des Fluggeräts. Schreiend sah er den Schlitten unter sich hinwegschießen, tiefer hinein in die Baumkronen. Er selbst stürzte ebenfalls abwärts, durch Lagen von Zweigen und noch meh r Z weigen, immer wieder abg e bremst und aufgefangen, um dann doch noch weiterzufallen. Die Schmerzen wurden zu etwas Diffusem, zu allgegenwärtig, um unterscheidbar zu bleiben. Alles tat ihm weh, und als das Peitschen und Schlagen und Brennen mit einem Schlag aufhörte, da blieb ihm keine Zeit für Erleichterung, denn es bedeutete nur, dass er die Baumkrone durchstoßen hatte und frei in die Tiefe stürzte, zwischen turmhohen Stämmen hinab in den Nebel.
* * *
» Mein Name ist Wisperwind. «
Das
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