Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
wunderte er sich, dass sie nie ihren Hut verlor, ganz gleich ob sie lief oder flog.
Der Wald reichte hier fast bis ans Wasser. Wurzeln duckten sich wie bucklige Gnome ans Ufer, ihre Ausläufer wurden von schäumenden Wogen umspült. Die Strömung war reißend, viel zu stark, um hindurchzuschwimmen.
Ein Brüllen ertönte.
Teile dessen, was er gerade noch für Wurzelwerk gehalten hatte, richteten sich auf. Wuchsen zu Gestalten mit zu vielen Gliedern heran, mit zu vielen Krallen, zu vielen Zähnen.
Wisperwind stieß einen zornigen Schrei aus. Die Schwertlanze verwandelte sich in einen blitzenden Silberbogen, als sie damit ausholte. Die Klinge zuckte vorwärts. Gellendes Kreischen übertönte den Lärm des strudelnden Wassers.
Die Raunen strömten aus dem Wald ans Ufer und schnitten ihnen den Weg ab.
DIE BRüCKE DER RIESEN
E in Raun landete vor Niccolo und riss das Maul auf, weit genug, um seinen ganzen Oberkörper zu verschlingen. Pestg e stank wehte ihm entgegen. Die braunen Zähne des Wesens sahen aus wie abgebrochene Äste, seine Haut wie borkige Rinde. Pilzg e flecht überzog den knorrigen Leib. Der Raun überragte Niccolo um mehr als die Hälfte. Als er triumphierend seine vier Arme auseinander riss, spannten sich statt Muskeln verflochtene Wurzelstränge.
Wisperwind rammte die Schwertlanze von hinten durch die Kreatur. Die gezahnte Klinge bohrte sich vorn aus der verhol z ten Brust, genau auf Niccolo zu, der einen entsetzten Satz zurück machte.
Der Raun starb vor seinen Augen. Das Wesen blutete nicht, brach nicht einmal zusammen. Stattdessen stieß es ein schrilles Kreischen aus und zerstob im nächsten Augenblick in einer trockenen braungelben Wolke. Brüchige Fetzen wehten Niccolo ins Gesicht. Als er sie hastig abstreifte, fühlten sie sich nicht wie Teile von etwas Lebendigem an, eher wie Überreste einer abgestorbenen Pflanze.
» Herbstlaub «, rief Wisperwind ihm zu, während sie zwei weitere Raunen in zerstiebende Wolken verwandelte. » Sie werden zu Herbstlaub, wenn man sie tötet. «
Niccolo hatte noch nie im Leben Herbstlaub aus de r N ähe gesehen, nur aus großer Höhe, wenn die Wälder sich als prachtvolle Ozeane aus Gold darboten. Nun aber, da es überall an ihm klebte wie erdfarbene Hautschuppen, stieg Ekel in ihm auf.
» Lauf! «, brüllte Wisperwind ihm zu. » Ins Wasser, soweit du kannst, ohne dass die Strömung dich packt. Folge dem Fluss. «
» Wohin? «
Sie blockte den Schlag einer Raunenkralle mit dem Lanze n schaft. » Das wirst du schon sehen. Vertrau mir! «
Hinter Niccolo ertönte ein markerschütterndes Schreien, gefolgt von einem Schwall heißen, stinkenden Atems aus einem Raunenrachen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie vier Borke n arme auseinander klafften, um ihn zu packen. In letzter Sekunde warf er sich nach vorn, machte einen Schlenker, um zwei weiteren Pflanzenbestien auszuweichen, und erreichte den Fluss. Das Ufer war steinig und zerfurcht von verborgenen Spalten, aber er hatte keine andere Wahl, als sich dem Strom anzuve r trauen. Stolpernd sprang er bis zu den Waden ins kalte Wasser und sah zurück.
Drei Raunen blieben brüllend stehen und versuchten, ihn über die Wellen hinweg mit ihren Krallen zu erreichen, vielfach verwinkelte Finger wie Wurzelfächer, lang wie Niccolos Unterarm und mit scheußlichen Dornennestern an den Enden.
Er wich noch einen weiteren Schritt vom Ufer zurück und bekam die Macht der Strömung zu spüren. Beinahe hätte sie ihn von den Füßen gerissen. Einen Augenblick lang hatte er genug damit zu tun, sich gegen den Strom zu stemmen und zugleich nach festem Halt zu suchen.
Dann sah er Wisperwind und vergaß für eine Weile sogar seine Flucht.
Sie wütete zwischen den Raunen wie eine Furie, ein Wirbel aus Armen und Beinen und flatterndem Stoff, eingewoben in ein Netz aus silbernen Bahnen, wenn die beiden Schwertklingen funkelnde Schlieren in die Luft schnitten.
D ie Lanze steckte in einem Haufen Herbstlaub, der vo m W irbel der Kriegerin abgetragen wurde und hinaus aufs Wasser trieb. Niccolo sah wie betäubt an sich hinunter und bemerkte, dass sich braune Blattfetzen an seinen Beinen ansammelten. Ang e widert stakste er ein paar Schritte vorwärts, um die Überreste des Rauns abzuschütteln.
Auf der Wolkeninsel wurde selten gekämpft, und wenn doch, so handelte es sich um unbeholfene Wirtshauskeilereien. Das, was Wisperwind da tat, unterschied sich von solchem Geprügel wie ein eleganter Tanz vom plumpen Gestampfe der
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