Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
sie zurück.
» Haben sie dich hierher verfolgt? «
» Mich? « Sie presste ein hartes Lachen hervor. » Ganz sicher nicht. «
» Was suchen sie dann? «
Sie sah rätselhaft über die Schulter. » Vielleicht dich? «
» Unsinn. «
» Sie spüren den Aether in dir. Er ist es, der sie anlockt. Sie glauben, dass Drachen in der Nähe sind. Raunen hassen die Drachen. «
Er begriff, dass die Raunen nicht ihn gewittert hatten, sondern die Wolkeninsel hoch über ihren Köpfen. Noch war das schw e bende Wolkengebirge von Aether gesättigt. Falls die Raunen die geheimnisvolle Substanz tatsächlich spüren konnten, dann war es kein Wunder, dass sie außer sich waren. So viel Aether auf einmal gab es vermutlich nirgends auf dem Erdboden. Außer vielleicht dort, wo Drachen lebten.
» Ich bin auf der Suche nach einem Drachen «, sagte er gerad e heraus. » Weißt du, wo ich einen finden kann? «
Ernsthaft schüttelte sie den Kopf. » Hab lange von keinem mehr gehört. Nicht in dieser Gegend. «
Sein Herz sackte ein gutes Stück tiefer. » Wo dann? «
» Nicht hier. «
» Aber ich muss einen Drachen finden «, sagte er beharrlich. Er wusste nicht, wie lange sich die Wolkeninsel noch dort oben zwischen den Gipfeln halten konnte. Ein paar Wochen b e stimmt. Vielleicht ein, zwei Monate. Aber länger? Allein der Gedanke daran jagte ihm eine Heidenangst ein. Seine Tiere, all die Menschen … Er kämpfte die aufsteigende Panik nieder, so gut es eben ging.
» Erst einmal «, sagte Wisperwind barsch, » musst du überl e ben. «
Im selben Augenblick begann sich der Wald zu lichten. Ein mächtiges Rauschen drang an Niccolos Ohren. Sie hatten den Fluss erreicht. Den breiten, geschlängelten Wasserlauf, den er von der Wolke aus gesehen hatte. Also waren sie schon viel weiter östlich, als er angenommen hatte.
Der Anblick verschlug ihm den Atem. Die Größe dieses Stroms war ihm unheimlich. Auch auf der Wolkeninsel gab es nach Sturzregen reißende Gewässer – aber sie waren selten breiter als ein Trampelpfad. Nicht einmal die Trinkwasserrese r voirs und stillen Tümpel in den Wolkensenken konnten es hiermit aufnehmen. Der Fluss maß von einem Ufer zum anderen mindestens tausend Meter.
» Die Raunen können nicht über das Wasser «, sagte Wispe r wind.
» Gut. «
» Wir allerdings auch nicht. Jedenfalls nicht hier. «
Vor ihnen fiel eine Böschung ab, doppelt mannshoch und zu steil, um einfach hinunterzulaufen. Niccolo blieb stehen, aber Wisperwind packte ihn kurzerhand am Arm und zog ihn über die Kante. Mit einem Aufschrei folgt e e r ihr in die Tiefe, kam ungeschickt auf, wurde aber im selben Moment schon wieder nach oben gerissen, strampelte mit den Beinen und spürte dann, wie er – sehr viel sanfter – wieder zu Boden gelassen wurde. Wisperwind landete neben ihm und lies ihn los.
» Wie machst du das? «
» Konzentration. « Sie gönnte sich ein unverhofftes Lächeln. » Den Federflug zu beherrschen ist eine Sache der geistigen Bereitschaft. Du musst es wollen. «
» Daran soll ’ s nicht scheitern. «
» Nicht fliegen wollen «, sagte sie kopfschüttelnd. » Meditieren wollen. Viele Jahre lang. Allein in der Wildnis. Ohne ein Wort zu sprechen. Die Lehre des Tao kann dich dorthin führen, aber – « Sie verstummte und hob einen Finger an die Lippen, als er etwas sagen wollte. » Sie sind fast hier! «, entfuhr es ihr plötzlich. » Lauf! «
Und dann rannten sie. Niccolo war erstaunt, wie er selbst das noch zu Stande brachte, nach all den Stunden auf den Beinen, trotz seiner Wunden, trotz der Schmerzen, trotz dieser ganzen verdammten Welt, die für ihn so neu und Furcht einflößend war.
Sie folgten dem Verlauf des Ufers. Es dämmerte bereits, die Sonne war hinter den Bergen verschwunden. Die Wolkeninsel hing als graue Decke zwischen den Gipfeln. Von der Erde aus war sie nicht von gewöhnlichen Wolken zu unterscheiden.
» Siehst du das? « Wisperwind deutete mit der Schwertlanze nach vorn. Fünfhundert Meter voraus machte der Fluss eine Biegung. Hinter einer Landzunge ragte etwas unförmiges Graues in die Höhe. Es hätte ein weiterer Felsen sein können, wie sie hier überall aus den Wäldern sta chen, doch irgendetwas daran erschien Niccolo ungewöhnlich. Es sah aus, als läge da etwas ungeheuer Großes mitten im Wasser. Und gleich daneben war ein ähnlicher Umriss. Und noch einer.
Er nickte nur und wartete auf eine Erklärung.
Sie gab ihm keine. Stattdessen wurde sie noch schneller. Einmal mehr
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