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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Wisperwind den Steinklotz früher oder später wieder verlassen mussten.
    Wisperwind steckte die Schwerter zurück in ihre Scheiden.
    » Das sind schöne Waffen «, sagte Niccolo. Er hatte keine Ahnung von Klingen, aber ihm waren die aufwändig verzierten Griffe und Kreuzstangen aufgefallen.
    » Ja «, murmelte die Kriegerin. » Sie erfüllen ihren Zweck. «
    Niccolo atmete tief durch. » Ich muss mich bei dir bedanken. «
    Sie antwortete nicht, sondern ging langsam auf die östliche Kante des Quaders zu. Der nächste Steinblock lag mehr als fünfzig Meter entfernt. Seine Oberfläche war zerklüfteter als die, auf der sie sich befanden, aber dafür gab es dort weniger Kletterpflanzen. Das Wasser mochte weiter zur Flussmitte hin zu tief für sie sein.
    Etwa zehn Schritt vor der Kante blieb Wisperwind stehen. » Wir werden es nicht ganz bis zur anderen Seite der Brücke schaffen «, sagte sie über die Schulter. » Es wird zu schnell dunkel, und wir werden kein Mondlicht haben bei all den Wolken über dem Tal. «
    Wusste sie mehr, als sie preisgab? Niccolo ließ sich nichts anmerken, sah aber zurück zur Unterseite der Wolkeninsel. Er war nun endlich dort, wo er immer hingewollt hatte, am Erdb o den. Und doch verspürte er beinahe so etwas wie Heimweh nach seinem Hof in den Wolken, und das lag nicht allein daran, dass er die Tiere vermisste. Nach allem, was er heute erlebt hatte, konnt e e r zum ersten Mal nachvollziehen, weshalb die Priester und Herzöge all die Jahre über die Verbindung zum Boden unterbunden hatten.
    Wir leben in einem Gefängnis, hatte sein Vater oft verbittert festgestellt. Aber nun musste Niccolo fast ein wenig kleinlaut zugeben, dass es sich zumindest um ein sicheres und behütetes Gefängnis gehandelt hatte. Der Gedanke erschien ihm fast wie ein Verrat an den Idealen seines Vaters, und er schämte sich noch im selben Augenblick dafür.
    Vielleicht konnte man nicht beides haben, Freiheit und Siche r heit. Womöglich gehörten Risiko und Gefahr nun einmal dazu, wenn man sein Leben selbst in die Hand nahm.
    » Komm jetzt «, sagte Wisperwind ungeduldig. » Es ist noch nicht vorbei. «
    » Das ist erniedrigend «, sagte er, als er ihr den linken Arm hinhielt.
    Wisperwind lächelte grimmig, packte ihn und zerrte ihn mit sich in die Luft.
     
    FEDERFLUG
     
    D en siebten Quader hätte Wisperwind in der Finsternis bein a he verfehlt. Sechsmal hatte sie Niccolo von einem Felsblock zum anderen getragen, mit weiten Flugsprüngen, die sie oft genug nur um Haaresbreite von einem Stein zum nächsten gebracht hatten.
    Nachdem sie zum siebten Mal gelandet waren – und eigentlich war es eher ein Sturz als eine Landung wie die vorangegangenen –, kam Wisperwind schwankend zum Stehen. Niccolo schüttelte stumm den Kopf, viel zu entkräftet und nahezu gelähmt von der Verspannung in seiner linken Schulter. Er ließ sich in der Mitte der Felsfläche nieder, streckte sich unter Schmerzen aus und schloss mit einem Stöhnen die Augen.
    » Auch wenn du mich zurücklässt … «, flüsterte er nach ein paar erschöpften Atemzügen. » Mich bewegt heute Nacht keiner mehr von diesem Klotz herunter. «
    Er hörte Wisperwind seufzen, dann klapperten ihre Schwerter zu Boden, gefolgt von einem Rascheln, als sie neben ihm auf die Knie sank.
    » Das letzte Stück schaffen wir im Morgengrauen «, sagte sie schwach.
    » Gut. «
    » Es sei denn, aus dem Wasser kommen – «
    » Mir egal «, unterbrach er sie.
    Sie lachte leise, aber es klang wie ein mattes Husten.
    » Sieht aus, als müsste ich die erste Wache übernehmen. «
    Niccolo wollte eine Antwort geben, aber da überwältigte ihn bereits seine Müdigkeit. Er träumte von einem Flug über Wälder, die unter ihm zum Leben erwachten und mit verwinke l ten Astklauen nach ihm schlugen. In seinem Traum bewarf er die Bäume mit Wolkenflocken, die wie Schneebälle aussahen. Er erwachte, bevor er erkennen konnte, ob er den Ozean aus Baumbestien damit besiegen konnte. Verschlafen vermutete er, dass seine Chancen wohl nicht die besten gewesen waren.
    » Guten Morgen «, sagte Wisperwind, als er die Augen au f schlug.
    Sie saß im Schneidersitz neben ihm und hatte, wie konnte es anders sein, bereits ihren Strohhut auf. Tiefe Ringe lagen unter ihren Augen. Sie wirkte nicht halb so frisch, wie sie sich gab.
    » Dieser Hut «, brachte er müde hervor. » Was hat es damit auf sich? «
    » Er gefällt mir. «
    » Aber er sieht albern aus. «
    » Und schützt vor schlechten Gedanken. «

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