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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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− nicht ohne ihr vorher den Strohhut abzunehmen. Er hatte halb erwartet, dass sie darunter verunstaltet wäre, vielleicht noch stärker vernarbt als im Gesicht; doch dem war nicht so. Ihr langes Haar war voll und glatt und von tiefstem Schwarz, die Kopfhaut darunter unversehrt.
    Allmählich legte sich seine Aufregung. Sicher brauchte sie nur Ruhe. Argwöhnisch sah er hinüber zum Wald rand, entdeckte aber keine Anzeichen von Raunen auf dieser Seite des Flusses. Falls es hier welche gegeben hatte, waren sie wahrscheinlich längst davongezogen, um das Wasser an einer günstigeren Stelle zu überqueren und sich mit ihren Artgenossen im Zentrum des Tals zu vereinen.
    Kannst du dessen ganz sicher sein?, fragte eine innere Stimme.
    Die Sonne war aufgegangen, stand aber noch hinter den luft i gen Blätterkronen schlanker Bambusbäume. Dahinter und noch höher erhoben sich ausladende Ginkos. Die Schatten zwischen den Blättern wirkten belebt, vielleicht nur vom Wind. Hoffen t lich vom Wind.
    Er musste sich zwingen, seinen Blick vom Waldrand loszure i ßen. Wisperwind atmete ruhig, aber ihre Augen bewegten sich unter den Lidern. Ihre Lippen waren aufeinander gepresst, als wollte sie sich daran hindern, unbewusst im Schlaf zu sprechen. Was für Geheimnisse sie wohl auszuplaudern hätte?
    Niccolo ergriff zögernd eines der beiden Schwerter. Die Verzierungen an den Griffen ähnelten einander und mochten Schriftzeichen sein, deren Bedeutung er nicht kannte. Die Kreuzstangen waren sichelförmig gebogen und sehr viel kürzer als jene der Schwerter, die das Volk der Hohen Lüfte besaß. Niccolo zog die Waffe aus der Scheide und betrachtete die gerade Klinge. Sie war auffallend schmal, kaum zweimal so breit wie sein Daumen, und beidseitig geschärft.
    Er vergewisserte sich, dass Wisperwind noch schlief, legte die leere Scheide beiseite und stand mit dem Schwert in der Hand auf. Spielerisch hieb er ein paar Mal in di e L uft, versuchte Attacken und Paraden gegen unsichtbare Gegner, machte Ausfallschritte und hatte zu seinem Erstaunen das Gefühl, dass er sich nicht einmal ungeschickt dabei anstellte. Beinahe fühlte es sich an, als führte das Schwert ihn, nicht umgekehrt. Ein Strom von Begeisterung floss durch seinen Körper, ließ seine Muskeln vibrieren und schien ihn von innen heraus zu erhitzen.
    Als er erschöpft zur Ruhe kam, bemerkte er, dass der Schmerz in seiner Schulter so gut wie verschwunden war. Auch die Prellungen taten nicht mehr so weh, obgleich sie – wie er sofort feststellte – noch immer grün und blau auf seiner Haut leucht e ten.
    Mit neuem Respekt blickte er vom Griff bis zur Spitze an dem Schwert entlang – und musste für einen Augenblick gegen den Wunsch ankämpfen, eine oder besser gleich beide Waffen zu stehlen und sich mit ihnen davonzumachen, bevor Wisperwind erwachte.
    Er schämte sich dafür und schob die Klinge eine Spur zu schnell zurück in die Scheide. Das Verlangen nach der Waffe verschwand im selben Augenblick, da der Stahl wieder vollstä n dig verborgen war.
    Erst jetzt fiel sein Blick erneut auf die Kriegerin.
    Sie sah ihn an, wer weiß, wie lange schon.
    » Es tut weh, nicht wahr? «, fragte sie tonlos.
    » Meine Schulter? Nein, nicht mehr. Ich – «
    » Ihnen zu widerstehen. « Sie schob sich ein Stück nach oben und setzte den Oberkörper auf. » Du hast es auch gespürt. Ich hab ’ s gesehen. «
    » Das sind keine gewöhnlichen Schwerte r «, stellte er fest, zu beschämt, um ihrem Blick länger standzuhalten.
    » Nein, wohl kaum. « Ein Lächeln breitete sich über di e h aa r feinen Narben auf ihren Wangen. » Mach dir keine Vorwürfe. Ich selbst habe sie auch nur gestohlen. «
    » Im Ernst? «
    Sie nickte. » Seitdem laufe ich weg und weiß nicht einmal, vor wem. «
    » Wem haben sie gehört? «
    » Seit ich sie bei mir trag e «, sagte sie ausweichend, » v ersuche ich, mehr über sie herauszufinden. Ich denke, ich weiß jetzt, woher sie stammen und wer sie geschmiedet hat. Aber um sicherzugehen, muss ich dorthin reisen. Du und die Raunen, ihr seid mir dazwischengekommen. Aber das ändert nichts. Ich setze meine Reise fort, und offen gesagt, geht das schneller ohne dich. «
    Er hatte damit gerechnet, dass sich ihre Wege früher oder später wieder trennen würden. Aber nun, da sie es so offen aussprach, traf es ihn doch. Sie hatte ihm mindestens zweimal das Leben gerettet, und er ahnte, dass er ihre Hilfe in diesem Land noch das eine oder andere Mal herbeiwünschen

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