Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
hier und jetzt klar wurde. Sein Leben lang hatte er sich geweigert, die Wahrheit zu akzeptieren, genau wie sein Vater. Aber nun, gerade einmal zwei Tagesreisen entfernt, musste er einsehen, dass die Wolkeninsel sein einziges Zuhause war.
Viele Menschen wimmelten am Ufer umher, sowohl auf festem Boden als auch auf zahllosen Stegen und Plattformen zwischen den Hausbooten. Die Strömung hatte hier an Kraft verloren, das Wasser war kaum aufgewühlter als die Oberfläche eines Sees. Wenn diese Männer und Frauen tatsächlich auf dem Fluss lebten, dann hatten sie vielleicht mehr mit dem Volk der Hohen Lüfte gemein, als Niccolo bislang angenommen hatte.
Ein Markt war im Gange, ein buntes Durcheinander aus Hän d lern hinter klapprigen Ständen aus Bambus und Stoff, Verkäufern mit überfüllten Bauchläden, Bauern, die magere Rinder, Schweine und Hühner feilboten, und einfachen Leuten, die hier und da etwas kauften oder lautstark über Wucher schimpften. Die meisten trugen schlichte, erdfarbene Kleidung, aber es gab auch Frauen in bunten Gewändern, geschmückt mit Schärpen; einige schützten sich mit bemalten Schirmen aus Papier gegen die Sonne. Unter den einfacheren Leuten waren Strohhüte weit verbreitet.
Träger schleppten Säcke mit Salz und Zucker umher, andere luden Holzbalken und Ziegelsteine für den Hausbau von schwankenden Decks kleiner Frachtboote. Manch einer verkau f te Gewürze und Elfenbein aus dem fernen Indien, andere Baumwolle und Seide, Früchte und sogar farbiges Papier in großen, rechteckigen Lagen. Es gab Jadeschleifer und Kleide r näher; Kammmacher und Goldschmiede; Klebstoffkocher, Lackmeister und Gerber. Über allem hingen die Gerüche von Kuhdung und Tee, von Orangen, Hühnersuppe und Reiswein.
Niccolo zwang sich, den Kopf gesenkt zu halten, während er sich dem Ufer näherte. Dabei konnte er seine Neugier kaum im Zaum halten. All das war so neu und vielfältig. Selbst wenn er nur aus den Augenwinkeln hinsah, kam er kaum aus dem Staunen heraus. Mehrmals trafen ihn Blicke von Männern und Frauen. Ein kleiner Junge zeigte auf ihn und rief ein paar anderen etwas zu. Aber noch sprach niemand ihn an. Feinds e ligkeiten gab es keine, eher Neugier, vielleicht auch eine Spur von Misstrauen.
Er überlegte noch, wo er am besten Erkundigungen über Drachen einziehen könnte, als sein Blick auf einen Wall aus Holzkäfigen fiel, der hinter einem der Stände aufgebaut war. In den winzigen Verschlägen waren Hunde eingepfercht. Einige winselten herzzerreißend.
Niccolo versteifte sich, als ihm klar wurde, dass die Tiere nicht als Wachhunde oder Spielgefährten verkauft wurden. Sie waren Nahrung.
Der Mann, der mit ihnen handelte, war klein und sehr dünn. Er wirkte höflich und bieder, keineswegs wie jemand, der niedliche Hundewelpen zu Suppenfleisch verarbeitet. Und doch trug er silberne Ringe an den Fingern und einen goldenen Talisman am Hals. Das Geschäft schien recht gut zu gehen.
Niccolo starrte ihn angewidert an und war drauf und dran hinüberzugehen, auch wenn er wusste, dass er kaum einen größeren Fehler machen konnte; sich als alleinreisender Auslä n der über Sitten und Gebräuche dieses Landes zu mokieren, war keine gute Idee. Es stand ihm nicht zu, ganz gleich, wie Leid ihm die Hunde in ihren Käfigen taten.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als ein Trupp Soldaten zwischen den Ständen auftauchte und vor dem Hund e händler stehen blieb. Die Männer trugen schwarzes, fellbesetztes Rüstzeug und Helme, die in scharfen Eisenspitzen ausliefen. Einige hatten sich ihre Schwerter offen über die Schulter gelegt, weil sie zu groß für Scheiden waren. Niccolo hatte noch nie so gewaltige Klingen gesehen. Die Erinnerung an Wisperwinds Schwerter stand ihm noch frisch vor Augen, und der Unte r schied hätte kaum auffälliger sein können: Die Waffen der Soldaten waren so breit wie sein Oberschenkel, einseitig geschärft und leicht gebogen.
Andere Männer trugen Streitkolben mit nietenbesetzten K u geln. Zudem gab es Schwertlanzen mit wehenden Federbüschen am Schaft, sonderbare forkenartige Waffe n m it drei hakenb e wehrten Spitzen und einen Kriegshammer, den Niccolo nicht einmal hätte anheben können.
Im Vergleich zu den Chinesen auf dem Marktplatz waren die Soldaten größer und bulliger, einige fett, andere wandelnde Muskelberge. Niccolo zweifelte keine Sekunde daran, dass er zum ersten Mal den berüchtigten Mandschu gegenüberstand, Kriegern jener Erobererarmee, die das chinesische
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