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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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würde.
    Wisperwind wies am Ufer entlang, dem tiefen Einschnitt im Gebirge entgegen. » Folge dem Fluss nach Norden. In etwa anderthalb Tagen erreichst du ein Dorf. Hast du eine Waffe? «
    » Nur einen Dolch. «
    Zweifelnd betrachtete sie die unscheinbare Klinge an seinem Gürtel. » Ich kann dir keines der Schwerter geben, aber wenig s tens einen Rat. Was immer du auch tust, halte dich von den Mandschu fern. «
    » Noch mehr Ungeheuer? «
    Jetzt wirkte ihr Lachen zum ersten Mal ungezwungen, so als käme es von Herzen. » Die Mandschu sind Men schen wie du und ich. Steppenbewohner, Mongolen. Vor etwa hundert Jahren haben sie die Große Mauer überschritten und das chinesische Reich erobert. Seitdem halten sie mein Volk – wir sind die Han, aber du würdest uns wohl alle Chinesen nennen – wie Sklaven. Der Kaiser in Peking ist eine ihrer Puppen und regiert in ihrem Namen. Überall im Land sitzen ihre Statthalter, beuten die Menschen aus, fressen sich die Bäuche rund und herrschen mit Gewalt und Willkür. Du wirst Mandschu treffen, früher oder später. Ihre Soldaten sind nicht zu übersehen – in jedem Gas t haus sind sie die lautesten, betrunkensten und reizbarsten Zecher. Aber unterschätze sie nicht. Und was du auch tust, leg dich nicht mit ihnen an. «
    Er grinste schief, auch wenn ihm gar nicht danach zu Mute war. » Ist das ein Rat, den du selbst beherzigst? «
    » Ich habe mehr Mandschu getötet, als ich zählen kann. Aber wenn es möglich ist, dann weiche ich ihnen aus. Ich bin nur eine wandernde Schwertkämpferin, keine Idealistin und schon gar keine Rebellin. Ich kämpfe nicht für irgendein Volk, nur für mich. Ich hasse die Mandschu, aber ich verachte auch die Han, weil sie sich von den Eroberern wie willenlose Lämmer auf die Schlachtbank führen lassen. «
    In ihren Augen entdeckte er etwas, das im Widerspruch zu ihren Worten stand. Ein Feuer, das weit weg war von der Gleichgültigkeit, die sie da predigte.
    Hastig setzte sie ihren Strohhut auf; sogleich verschwanden ihre Augen im Schatten der breiten Krempe.
    » Sehen wir uns irgendwann wieder? «, fragte er, als er ihr zum Abschied die Hand entgegenstreckte.
    » Zwischen Flüssen und See n «, sagte sie, und es klan g w ie eine alte Formel, ein ritueller Gruß unter Kriegern. Dann huschte sie davon und verschmolz lautlos mit den Schatten der Ginkobä u me.
    Am anderen Ufer wehklagten die Raunen und sangen geiste r hafte Lieder.
     
    LOTUSKLAUE
     
    W as er schließlich fand, war kein Dorf, sondern eine Flotte bunter Hausboote. Sie lagen festgezurrt am Ufer des Flusses wie eine Herde bizarrer Tiere, die sich um eine Wasserstelle in der Wildnis drängten.
    Nachdem Niccolo die Kluft zwischen den Bergen hinter sich gelassen hatte, war das Land flacher geworden. Die Wälder erstreckten sich über Hügel, aber die gewaltigen Felstürme blieben zurück und mit ihnen der Blick auf die Wolkeninsel. Im Norden war der Himmel klar, die Sonne stand glühend im Nachmittagsblau und legte einen flirrenden Schleier über das weite Land am Strom. Die Stimmen der Raunen waren jenseits der Berge verklungen, und zum ersten Mal seit seinem Abschied von Wisperwind gestattete Niccolo sich ein tiefes Durchatmen. Ein Teil seiner Anspannung fiel von ihm ab, obgleich ihm der Gedanke an viele Menschen, die ihn sogleich als Fremden erkennen mussten – keine Mandelaugen, dafür rosige Haut und braunes Haar –, Sorgen bereitete. Aber dort vorn lebten imme r hin Menschen, keine Bestien aus Wurzelwerk und Rinde.
    Während er sich dem farbenfrohen Schwarm der Hausboote näherte, wünschte er sich einen Strohhut wie den von Wispe r wind. Zumindest auf den ersten Blick hätte der Schatten seine Augen verborgen. So aber blieb ih m n ichts übrig, als zu seiner Andersartigkeit zu stehen. Er erinnerte sich, was die Kriegerin über die Nachfahren des Marco Polo in der Kaiserstadt gesagt hatte, und legte sich eine grobe Geschichte zurecht: Dass er aus Peking käme, ein junger Gelehrter auf Wanderschaft, der den Legenden über Drachen im Herzen Chinas nachgehe, um seinen Landsleuten in der Hauptstadt davon zu berichten und vielleicht gar Kunde davon nach Italien zu tragen.
    Obgleich er aussah wie jemand, der tatsächlich einen Ahnen in der Gefolgschaft des Marco Polo gehabt haben könnte, war ihm doch der Gedanke an das Land seiner Vorfahren so fremd wie die Vorstellung, jemals dorthin zurückzukehren. Seine Heimat lag über den Wolken, und es erschreckte ihn, dass ihm das ausgerechnet

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