Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
krächzender Stimme.
Sie schüttelte den Kopf. » Geflohen. Und vielleicht zu schwach, um mich je wieder anzugreifen. « Mit wehendem Seidenärmel deutete sie auf etwas, das nicht weit von ihnen entfernt im Gras der Lichtung lag. Niccolo musste sich noch weiter aufrichten, bis er erkannte, dass es Guo Laos Kranich war. Das große Tier ruhte leblos auf der Seite, den Schnabel leicht geöffnet, die Augen starr.
» Mir gefällt das nich t «, knurrte Feiqing. » Man tötet keinen Kranich eines Unsterblichen. «
Nugua spie verächtlich aus, jetzt wieder ganz die Alte.
» Man tötet überhaupt keine Tiere! Es sei denn, man will sie essen. «
Mondkind nickte traurig, und Niccolo dachte, dass er niemals zuvor jemandem begegnet war, den Melancholie noch hübscher machte. » Das war nicht ich. Guo Lao hat das getan. «
» Warum? «, fragte er, obwohl er spürte, dass sie die Wahrheit sagte.
» Er hat ihm Chi entzoge n «, sagte das Mädchen. » So wie ich dir. Aber sein Vogel war nicht so stark wie du, und Guo Lao hat ihm zu viel auf einmal genommen. «
Nuguas Blick wurde noch düsterer. » Heißt das, du hättest Niccolo umbringen können mit … dem, was du da getan hast? «
» Mir geht ’ s gu t «, fuhr Niccolo schnell dazwischen.
Mondkind trat näher, kam aber nicht bis an ihn heran, weil Nugua keinen Platz machte. » Ich bitte dich um Verzeihung für das, was ich tun musste. Aber Guo Lao hätte sonst nicht nur mich getötet, sondern auch euch. «
Feiqing schüttelte entschieden den Kopf. » Die Xian sind den Menschen wohl gesonnen. Jedes Kind weiß das. Sie sind treue Diener des Himmels. «
Mondkinds Lächeln tastete ins Leere. » Ich habe nie behauptet, dass Guo Lao nicht dem Himmel dient. «
» Wer bist du? «, fragte Niccolo.
» Ich war Schülerin einer Xian, der unsterblichen He Xiangu. Aber dann musste ich mitansehen, wie sie im Namen des Himmels den Menschen nichts als Verderben gebracht hat. Nicht etwa aus Bösartigkeit … nein, alles was die Xian tun, dient dem Guten. Oder dem, was sie darunter verstehen. Aber sie sind kaltblütig und skrupellos , wenn es um die Verfolgung ihrer Ziele geht. Und sie wägen ab: Wenn elf Menschen überl e ben, ist es richtig, dafür das Leben von zehn zu opfern. « Mondkinds Blick suchte Feiqing, der in seinem Dr a chenkörper ein gutes Stück in sich zusammenzusinken schien. » Deshalb hätte Guo Lao euch getötet. Er hätte nicht um Erlaubnis gefragt, ob er sich eurer Kraft bedienen dürfte. Hätte ich nicht zwischen ihm und euch gestanden, dann hätte er sich einfach genommen, was ihm nötig erschien. So ist es Art der Xian, und jeder, der etwas anderes glaubt, ist ein Narr! «
Feiqing verzog schmollend die knittrigen Winkel seines Dr a chenmauls.
» Du hast dich von deiner Lehrerin losgesagt? «, fragte Nicc o lo. » Und deshalb verfolgen dich die Xian? «
Sie nickte. » Ich kenne Geheimnisse, die nicht für Sterbliche bestimmt sind. Nachdem ich He Xiangu verlassen hatte, habe ich Unterschlupf bei einem der Schwerterclans gefunden. Aber dann wurde ich verraten und musste abermals fliehen. Guo Lao ist auf meine Spur gestoßen und hat mich seither verfolgt. «
» Was ist ein Schwerterclan? «, fragte Niccolo.
Feiqing räusperte sich. » Das sind Geheimbünde, die sich der hohen Kunst des Schwertkampfes verschrieben haben. Sie leben verborgen auf einsamen Berggipfeln oder tief in den Wäldern. Die Mandschu verfolgen sie gnadenlos, aber nur zu oft ziehen sie den Kürzeren. Man kann nie ganz sicher sein, ob es sich bei den Clans um Verbrecher oder Rebellen handelt. Und es gibt große Unterschiede, nicht nur zwischen den einzelnen Kampfst i len, die sie lehren, sondern auch zwischen den Gesinnungen der ein zelnen Clans. Manche dienen Tiandi und dem Himmel, andere beten Dämonen an, und einige scheren sich weder um Gut noch um Böse, sondern kümmern sich nur um sich selbst. «
Mondkind nickte dem Rattendrachen anerkennend zu. » Ve r zeih, dass ich dich einen Narren genannt habe. Du besitzt großes Wissen. Man könnte meinen, du wärest selbst einmal Lehrmei s ter gewesen. «
Feiqing druckste geschmeichelt herum, und Niccolo erinnerte sich, dass er einen ganz ähnlichen Gedanken gehabt hatte. Feiqing mochte ein Tollpatsch sein und alles andere als vom Schicksal begünstigt. Aber wenn er erst einmal in seiner Erinnerung grub, stieß er auf Kenntnisse, die sogar ihn selbst zu erstaunen schienen.
» Großes Wissen … «, wiederholte Feiqing unglücklich. » Der
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