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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Hilfe holen – aber das hätte ihre Anwesenheit auch der zweiten Gestalt mit der Lampe verraten. Gut möglich, dass die sie bislang noch gar nicht entdeckt hatte.
    War der Mann am Boden Oddantonio Carpi? Allein anhand seines Stöhnens konnte sie ihn nicht erkennen. Er mochte es sein. Oder ein anderer.
    Schlagartig zerrte die Hand des Sterbenden an ihr – zerrte so kräftig, dass sie mit einem Ruck einen ganzen Schritt weit nach vorn gezogen wurde.
    Die Bewegung kam so überraschend und mit solcher Gewalt, dass sie das Gleichgewicht verlor und nach hinten fiel. Irgen d wie gelang es ihr, sich im Dunkeln abzustützen, knickte sich dabei fast das linke Handgelenk um und begann, wild mit den Beinen zu strampeln.
    Die Hand des unsichtbaren Mannes blieb fest um ihren Kn ö chel gekrallt, ganz gleich, wie sehr sie ihr Bein auch schüttelte. Und er zog sie noch immer nach vorn, weiter auf den Schacht rund um das Innenrohr zu.
    Da begriff sie. Der Mann rutschte ab! Er musste bei seinem Sturz am Rand des Schachts aufgekommen sein und wurde jetzt vom eigenen Gewicht über die Kante gezogen.
    Das Einzige, was ihn noch oben hielt, war sie. Und nun drohte er sie mit sich in den Abgrund zu reißen!
    Schritte ertönten oben auf der Wendeltreppe. Das Licht war wieder da. Und es kam näher. Der Lampenträger war tatsächlich auf dem Weg nach unten. Sie konnte nicht erkennen, wie viele Windungen der Treppe noch vor ihm lagen, ehe er den Boden erreichen würde, aber es konnten nicht mehr allzu viele sein.
    Das Ziehen an ihrem Bein wurde jetzt so heftig, dass sie kaum noch dagegen ankam. Angsterfüllt versuchte sie erst, den Mann zurückzuziehen, ihn vor dem Absturz zu retten, aber ihr wurde schnell klar, dass sie viel zu schwach war; er wog sicher doppelt so viel wie sie. Ihr blieb nur, die Finger des Sterbenden zu lösen, ihre eigenen unter seine zu schieben, aber nicht einmal das wollte ihr gelingen. Die Hand hielt sie fest wie ein Schrau b stock, ihre Muskeln verkrampft um das letzte Stück Hoffnung, das ihn vor einem Sturz in noch größere Tiefen bewahrte.
    Mit beiden Händen versuchte sie erneut, sich irgendwo festz u halten, während sie tiefer in die Schwärze gezerrt wurde. Sie lag jetzt auf der Seite, rutschte mit Knie und Oberschenkel über den Boden, während sie wild um sich griff und doch nirgends Halt fand.
    Wieder tauchte über ihr das Licht auf, der Lampenträger umrundete eine weitere Windung der Treppe. Diesmal erkannte sie wehende Gewänder, einen Mantel oder Umhang – der Schattendeuter! Wer immer also da vor ihr lag und sie mit sich ins Verderben zu reißen drohte, Carpi war es nicht. Wahrschei n licher war, dass der Schattendeuter selbst ihn von der Treppe hinabgestoßen hatte.
    Die Lampe verschwand wieder hinter dem Innenrohr.
    Höchstens noch drei Windungen, dann würde er bei ihr sein. Aber würde er ihr helfen? Oder sie als Mitwisserin hinab in den Schacht stoßen?
    Alessia zappelte heftiger. Ihr freier Fuß traf auf Widerstand, die Schulter vielleicht, aber der Griff um ihren Knöchel ließ nicht nach. Das Stöhnen des Mannes verstummte plötzlich, und sie fragte sich, ob er seinen Verletzungen erlegen war und ob es nun ein Toter war, der sie mit sich in den Abgrund zog. Das ließ sie noch heftiger strampeln, und nun musste auch der Schatte n deuter auf den Stufen sie hören.
    Wieder umrundete das Licht eine Treppenwindung – und diesmal verharrte es für einen Augenblick. Der Schein flackerte auf Alessia herab, fiel auch auf den reglosen Körper, der an ihrem Bein hing. Sie erkannte ihn.
    Sandro Mirandola, der oberste Inspekteur der Aetherpumpen.
    Ihm war dieser Ort unterstellt, und wenn überhaupt irgendwer das Recht hatte, hier zu sein, dann er. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten sie an, doch Alessia war nicht sicher, ob Mirandola sie noch sah oder sein Blick bereits gebrochen war.
    Und noch etwas entdeckte sie. Nur sein Oberkörper befand sich noch über der Kante des Abgrunds. Sein gesamtes Körpe r gewicht hing an ihr, und mit jedem Herzschlag rutschte sie weiter auf den Rand des Schachts zu. Noch immer pochte in ihrem Hinterkopf das Verlangen, ihm irgendwie zu helfen, aber dazu war es längst zu spät. Sie konnte ja nicht einmal sich selbst helfen.
    Das Licht verschwand hinter dem Innenrohr, Mirandola und sie selbst versanken wieder in Finsternis. Noch ei ne Windung, dann würde der Schattendeuter den Boden erreichen. Und kein Meter mehr, dann wurde auch sie über den Rand

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