Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
«
» Sei still! «
Im Schatten ihres Strohhutes konnte er nur die Mundpartie sehen – ihre Mandelaugen lagen im Dunkeln –, aber das reichte aus, um ihre Verbissenheit zu erkennen . Es war wohl an der Zeit, einen kleinen Schritt zurückzumachen.
» Nicht bewegen! «
» Was – «, begann e r S ie hielt das Schwert in beiden Händen und federte leicht in den Knien, als erwartete sie einen Angriff. Da verstand er, dass die Klinge gar nicht ihm galt. Und dass es vielleicht wirklich keine schlechte Idee wäre, mucksmäusche n still und reglos dazustehen.
Trotzdem, ein kurzer Blick über die Schulter – Hinter ihm bewegte sich der Wald. Nicht die Stämme . Aber hoch oben im Geäst rauschte das Laub, währen d e ine Vielzahl knorriger Schemen vorüberhuschte. Affen waren das nicht. Überhaupt – das Geschrei, das den Wald unablässig erfüllt hatte, war in weite Ferne gerückt. Rund um Feiqing und Wisperwind ertönte kein einziger Tierlaut, vielleicht schon seit Minuten, ohne dass es einem von ihnen aufgefallen war.
Ohne dass es mir aufgefallen ist, korrigierte sich Feiqing reumütig. Wisperwind hatte es ganz sicher bemerkt. Sie war eine Schwertmeisterin vom Clan der Stillen Wipfel, sie hörte bei Nacht die Sterne flüstern und am Tag die Berge wachsen.
Nur der Regen prasselte jetzt auf die Blätter. Und etwas b e wegte sich noch immer dort oben durch die Baumkronen.
Wisperwind gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, langsam zu ihr herüberzukommen. Er aber dachte gar nicht daran. Jede Bewegung würde womöglich seine letzte sein. Er war kein Kämpfer. Schon gar kein Drache . Herrje, er wusste nicht einmal, was er wirklich war.
Ruckartig schüttelte er den Kopf.
Ihre Lippen formten ein stummes » Komm her «.
Noch ein Kopfschütteln – und dann der Gedanke, sich vo r sichtshalber doch noch einmal umzudrehen und zurückzublicken.
Klüger wäre es gewesen, nach oben zu schauen.
Das fiel ihm ein, als es fast zu spät war. In derselben Sekunde löste sich Wisperwind mit einem blitzschnellen Sprung vom Boden, ließ im Federflug das Schwert herumwirbeln und traf irgendetwas, das sich unmittelbar übe r F eiqings Kopf befand. Einen Augenblick später rieselte eine Wolke aus Herbstlaub auf seinen Drachenkamm herab, puderte seine Knollennase und die Rattenschnauze mit braunen Blattfetzen.
Der Schrei des Rauns, der sich gerade auf Feiqing hatte hera b hangeln wollen, erstarb, noch bevor er den holzigen Schlund hatte verlassen können. Das Fauchen, das stattdessen daraus wurde, ging im Rauschen des Herbstlaubs unter, in das sich der Baumdämon nach seinem Tod verwandelte.
Feiqing hatte Raunen nie mit eigenen Augen gesehen, aber er wusste, dass sie in vielen Wäldern Chinas lauerten. Auch Niccolo war den Baumgeistern beinahe zum Opfer gefallen, hätte Wisperwind ihn nicht gerettet. Immerhin – davon verstand sie etwas.
Die Schwertmeisterin packte Feiqing am Arm und zerrte ihn mit sich. » Lauf! «, flüsterte sie, und dann rannte er auch schon, diesmal ohne jedes Widerwort, und selbst das durchnässte Kostüm fühlte sich nur noch halb so schwer an.
Irgendwann, Minuten später, blieben sie stehen: Feiqing völlig erschöpft, Wisperwind so ruhig und wachsam wie eh und je.
» Folgen … sie … uns? «, keuchte er, fast blind vor Erschö p fung, in seinen Ohren nur das Rasseln seines eigenen Atems.
» Vielleicht haben wir Glück «, gab sie zurück und schaute angespannt in die Richtung, aus der sie gekommen waren. » Der Raun, der dich angreifen wollte, war vielleicht nur ein Nachzü g ler. «
» Sie müssten sonst schon hier sein, oder? «
Wisperwind zuckte die Achseln. » Sie sind nicht besonders mutig. Der Tod ihres Bruders könnte sie vorsichtig machen. Gut möglich, dass sie uns belauern und später im Dunkeln zuschl a gen. «
» Prächtig «, stöhnte er, aber es klang eher wie ein schlaffes Ausatmen. » Und nun? «
Sie deutete auf eine Formation haushoher Felsen, die sich vor ihnen aus dem Wald erhob. Der Regen war stärker geworden, der Himmel tintig schwarz, obwohl es noch früh am Nachmittag sein musste. Donner rollte aus der Ferne heran und klang wie eine Armee, die sich vom Horizont her auf sie zuwälzte.
» Wir verkriechen uns zwischen den Felsen, bis das Unwetter vorbei ist «, entschied sie.
» Und die Raunen? «
Ein grimmiges Lächeln erschien auf Wisperwinds Zügen. Die winzigen Narben, die ihre Wangen bedeckten, glänzten silbrig im Gewitterzwielicht. » Wenn wir Glück haben, pflücken
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