Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
auf.
Niccolo rief ihr verzweifelt hinterher, aber ihr Kranich schwenkte in eine weite Kurve und war Sekunden später aus seinem Blickfeld verschwunden.
* * *
Die Seidenfesseln lockerten sich quälend langsam, während ihre Herrin sich entfernte und allmählich die Macht über sie verlor. Zugleich ließ auch die Leuchtkraft der Lichtkugel nach, bis Niccolo in grauem Halbdunkel lag.
Es musste eine halbe Stunde vergangen sein, ehe es ihm endlich gelang, sich zu befreien. Neben der Blutlache fiel er auf die Knie und senkte den Kopf, unfähig, klar zu denken, von Kummer und Hoffnungslosigkeit niedergedrückt wie von einer unsichtbaren Hand.
Es war Tieguais Kranich, der ihn schließlich aufrüttelte. Der Vogel stieß ihn mit dem Schnabel an, eine unmissverständliche Aufforderung, sich zusammenzureißen und aufzustehen. Niccolo folgte nur widerwillig. Am schwersten fiel es ihm, das Schwert aufzuheben. Er wollte Mondkinds Blut mit den Resten seiner Seidenfesseln abwischen, aber der Stoff zerfiel in seinen Fingern zu grauen Flocken . So nahm er die Klinge, blutig wie sie war, befestigte sie mit der Scheide auf seinem Rücken und ließ sich von dem Kranich zurück zu Tieguais Gipfel tragen.
Er bestattete den Unsterblichen am Ufer des Bergsees unter losen Steinen und kleinen Felsbrocken. Dann wusch er sich selbst und das Schwert, suchte seine Sachen zusammen und legte, einer Eingebung folgend, Feuer an die einsame Hütte.
Er würde Tieguais letzten Wunsch erfüllen und Guo Lao finden, irgendwo draußen in der Wüste Taklamakan. Es war das Mindeste, was er tun konnte.
Der Kranich trug ihn durch das Gebirge nach Norden, während hinter ihm eine schwarze Rauchfahne aufstieg und auf ihrem Weg in die Hohen Lüfte zerfaserte.
ALESSIAS ABSTIEG
V iele Tagesreisen entfernt von Tieguais Berg, vom Drache n friedhof und dem brennenden Wald, sackte die Wolkeninsel mit hypnotischer Unausweichlichkeit dem Talboden entgegen.
Nach wie vor hielten die drei Felsgipfel sie in der Schwebe, nahezu waagerecht, aber die Ränder der Wolke lösten sich weiter auf, das Eiland schrumpfte und rutschte allmählich zwischen den Bergen hinab. Bei ihrem Absturz aus den Hohen Lüften hatte sich die Insel tausend Meter über dem Boden verkeilt – nun waren es kaum mehr achthundert.
Die Unterseite hatte die Baumgrenze erreicht und zermalmte den Rand des Waldes, der seit Urzeiten das Tal und die steilen Hänge bedeckte. Tausende Raunen, die gierig auf den Absturz der Insel warteten, schrien im Unterholz. Heulen und Winseln erklang, als die Front der Baumgeister vor der Wolke talabwärts zurückwich, während andere von unten nachrückten. An manchen Orten kämpften Raunen gegen Raunen um einen Platz in den Baumkronen.
Eine durchdachte Belagerung mit Aussicht auf Erfolg war dies ganz sicher nicht. Jedenfalls nicht, solange keiner der Raunen den Mut fasste, den Wald zu verlassen und an der Wolke hinaufz u klettern.
Aber da waren noch andere Wesen. Sie hausten in den Spalten und Höhlen der Felsen, die weiter unten im Tal wie ver steinerte Ellbogen aus dem Waldr and ragten. Noch wagten sie nicht, sich unter die Raunen zu mischen und ihnen zu zeigen, wie einfach es war, die Ränder der Wolke zu erklimmen. Ein paar Mutige hatten es versucht, aber sie waren von den nachgiebigen Kanten abg e rutscht und in einem Wirbel aus Wolkenflocken zurück in die Masse der Raunen gestürzt. Die neidvollen Baumgeister hatten sie zerrissen, ehe sie einen zweiten Versuch wagen konnten.
Doch falls die Wolke weiter sank, falls Raunen und Felswesen ihren Zwist beendeten und die Gier beider Heerscharen die Oberhand gewann, dann würde es nur noch eine Frage von Stunden sein, ehe der finale Angriff begann.
Die Geschichte des Wolkenvolks würde enden, nur zweihu n dertfünfzig Jahre nachdem sie fern von hier, auf der anderen Seite der Welt, ihren rätselhaften Anfang genommen hatte.
* * *
Alessia de Medici, die fünfzehnjährige Tochter des Herzogs Jacopo, war seit fünf Tagen in der Aetherpumpe auf dem höchsten Gipfel der Wolkeninsel gefangen. Niemand kam, um nach ihr zu sehen. Der Plan des Schattendeuters, sie hier oben ein für alle Mal verschwinden zu lassen, schien aufzugehen.
Eigentlich wollte sie nicht an den Schattendeuter denken. Und doch schlich er sich immer wieder in ihre Überlegungen, Erinnerungen, in den Taumel aus Ängsten, Hoffnungen und Träumen, der sie hier oben Tag und Nacht umkreiste wie ein Wespenschwarm.
Der Schattendeuter, der
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