Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
behauptete, den Befehlen des Aethers zu gehorchen. Oddantonio Carpi, Verräter am Volk der Hohen Lüfte. Mörder des Pumpeninspekteurs, dessen Leiche weiter unten auf der Wendeltreppe lag, die aus dem schwarzen Eise n turm hinab ins Innere der Wolke führte.
Alessia hatte längst aufgehört, über Carpis verwirrende Worte nachzugrübeln. Der Aether war es, der die Wolkeninsel ein Vierteljahrtausend lang oben am Himmel gehalten und ihr Stabilität verliehen hatte. Doch wie eine Substanz, die nicht fester war als Luft, einem Mann Befehle erteilen konnte, überstieg Alessias Vorstellungsvermögen.
Vor zwei Tagen war es ihr gelungen, die schmale Balustrade zu betreten, die in großer Höhe um den Pumpenturm führte. Den Schlüssel für die Tür hatte sie beim Leichnam des ermordeten Pumpeninspekteurs gefunden . Nachdem sie zuvor drei Tage lang im Dunkeln gekauert hatte, eingesperrt, hungrig, verei n samt, hatte sie der Schritt ins Freie endlich wieder frische Luft atmen, den Himmel sehen, warme Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht spüren lassen.
Die Aetherpumpe, Alessias Gefängnis, erhob sich auf dem höchsten Gipfel der fünf Wolkenberge. Von der Balustrade an der Spitze der Pumpe aus bot sich Alessia ein atemberaubender Rundblick über die gestrandete Insel und die drei grauen Felsgiganten, die die Heimat des Wolkenvolks während des Absturzes aufgefangen hatten.
Doch schon bald wünschte sie sich, dass sie den Schlüssel zur Balustrade niemals gefunden hätte. Was sie von dort oben aus sah, erschütterte sie bis ins Mark.
Die Ränder der Wolkeninsel lösten sich auf. Das Eiland selbst wurde dadurch ganz allmählich kleiner und rutschte zwischen den Bergen hinab Richtung Erdboden. Alessia wusste, was das Volk der Hohen Lüfte dort unten erwartete. Als Einzige hatte sie die Insel verlassen und mit eigenen Augen gesehen, welche Gefahr in den Wäldern am Boden auf sie lauerte.
Baumgeister. Tausende und abertausende Kreaturen aus Holz und Harz und Borke. Mit gefletschten Dornenzähnen, vier verwinkelten Krallenarmen, Wurzelsträngen als Muskeln und winzigen bösen Augen. Sie warteten auf das Ende der Wolke n insel. Warteten darauf, dass die tausend Bewohner des Eilands die Flucht zum Erdboden antraten oder durch die aufgelöste Wolke in die Tiefe stürzten.
Seit ihrer Entdeckung war Alessia dreimal dort oben auf der Balustrade gewesen. Schließlich war sie heiser geworden von den vergeblichen Hilferufen in die Tiefe – niemand kam auf den Berg, keiner suchte sie hier. Ihre Furcht beim Anblick der weißen Dunstflocken, die sich vom Rand der Wolke lösten und Spuren über die Felswände zogen, raubte ihr nicht nur den Atem, sondern allmählich auch die Stimme.
Daraufhin beschloss sie, dass der Weg nach oben nichts als eine leere Hoffnung gewesen war. Ein Fehler, der sie zwei ganze Tage gekostet hatte. Was ihr blieb, war der Abstieg nach unten.
Die Wendeltreppe hinab. Am Leichnam des Pumpeninspe k teurs vorbei.
Tiefer und tiefer ins Innere der Wolke.
* * *
Am schlimmsten war der Schwindel. Seit einer Ewigkeit stieg sie nun schon Stufen hinab; sie hatte längst aufgehört, sie zu zählen. Die Windungen der Wendeltreppe waren zu einer einzigen, endlosen Schleife geworden, es gab keine Orientierung außer oben und unten. Und oben rückte mit jedem Schritt in größere Ferne.
Nur einmal malte sie sich aus, wie es sein würde, die Treppe wieder hinaufzusteigen. Davon wurde ihr so schlecht, dass sie sich für einen Augenblick hinsetzen musste, das Gesicht in den Händen vergrub und zu weinen begann. Das Wasser in der Flasche, die sie bei dem Toten gefunden hatte, schmeckte längst schal, aber sie nahm trotzdem einen sparsamen Schluck, in der Hoffnung, dass es sie beruhigte. Stattdessen aber würgte sie es vollständig wieder hinaus und spuckte es im Sitzen über ihre Knie. Auch einen Rest von der Wurst und dem steinharten Brot hatte sie noch, aber daran durfte sie nicht einmal denken. Seltsamerweise hatte die Vorstellung von Nahrung mit den Tagen ihrer Gefangenschaft keinesweg s a n Reiz gewonnen; ganz im Gegenteil, allein der Gedanke an Essen bereitete ihr Magenschmerzen. Warum das so war? Sie wusste es nicht.
Alles, was sie wusste, war, dass sie weitergehen musste.
Dem Licht entgegen.
Denn das war das Erstaunliche. Irgendwann hatte sie bego n nen, in der Tiefe des Schachtes eine verschwommene Helligkeit wahrzunehmen. Während es oben in der Pumpe stockfinster gewesen war – erst recht, nachdem ihre Öllampe
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