Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
keine Helligkeit mehr gesehen hatten. Zugleich zogen sie einen Schweif aus wandernden Schlagschatten mit sich, scharf umrissene Splitter aus Dunkelheit, die wie lebende Wesen von Spalt zu Spalt, von Vorsprung zu Vorsprung huschten.
Stunden waren vergangen, seit Niccolo und Yorotau sich den anderen angeschlossen hatten. Dem Ruf ihres Königs folgend, hatten sie sich an einem Kreuzweg mehrerer Felsschächte versammelt, bis der Letzte von ihnen eingetroffen war. Schließlich machten sie sich auf den Weg in die tieferen Regionen der Dongtian , glitten auf Hängen aus Granit und Schiefer abwärts, donnerten Geröllhalden hinab und krochen durch steile Kamine im Gestein.
Niccolo saß in einer Gabel von Yorotaus Horngeweih, klammerte sich mit den Händen fest, so gut er konnte, und zog instinktiv den Kopf ein, wenn ihm eine Höhlendecke zu niedrig erschien oder Stalaktiten wie Schwerter aus Kalkstein vor ihnen herabstachen. Die Gewandtheit der Drachen verblüffte ihn auch noch nach Stunden. Er staunte, wenn sie über schmale Gesimse zogen, als besäßen sie kein Gewicht. Und ihm stockte der Atem, wenn sich Abgründe vor ihnen auftaten, in die sich die Drachen kurzerhand hinabstürzten, um sich vor dem Aufprall in einer geschlängelten Bewegung aufzufangen und sanft am Boden zu landen. Erst danach wurde Niccolo bewusst, dass er geflogen war. Nun, vielleicht nicht wirklieb geflogen - dann säße er nicht mehr in Yorotaus Geweih, sondern wäre zweifellos abgeworfen worden. Aber die Art und Weise, wie die tonnenschweren Wesen ihren freien Fall verlangsamten, um dann leicht wie ein Blatt auf dem Felsboden aufzusetzen, kam seiner Vorstellung vom Fliegen ziemlich nahe.
Im ewigen Goldlicht der Drachenschuppen verlor er bald jedes Gefühl für die Zeit. Es war Morgen gewesen, als er mit Yorotau das Plateau vor dem Portal verlassen hatte, um sich der Patrouille anzuschließen. Nun musste es später Nachmittag sein, vielleicht früher Abend, doch selbst das war nur eine Schätzung. Die Höhlen und gewachsenen Kammern, die sie durchquerten, lagen kilometertief unter der Oberfläche. Die Luft hier unten wurde immer wärmer und gleichzeitig trockener. Die wenigen Male, wenn er Yorotau eine Frage stellte, klang seine Stimme rau und ungesund. Er sprach nur selten, weil die Drachen gänzlich schwiegen, und er glaubte, sie täten das aus Vorsicht. Dann erst wurde ihm bewusst, dass sie nicht sprechen mussten, um sich zu verständigen - das taten sie kraft ihrer Gedanken und es war durchaus möglich, dass sie die ganze Zeit über geredet hatten, ohne dass ein Ton aus ihren mächtigen Mäulern drang.
Immer öfter stießen sie auf Spuren von Juru. Felswände, die Kratzmuster von den Knochendornen an ihren Armen und Beinen aufwiesen. Scheußliche Ausscheidungen, vor denen selbst den Drachen ekelte, wenn sie keinen Weg um sie herum fanden. Bizarre Gebeinreste von Kreaturen, die ebenfalls in diesen Höhlen lebten und den Felsenwesen als Nahrung dienten. Sogar Gerippe von Juru selbst, die vielleicht eines natürlichen Todes gestorben, wohl eher aber von hungrigen Artgenossen zerfleischt worden waren.
Aus Wärme wurde allmählich beißende Hitze und Niccolo bemerkte, dass die Drachen immer langsamer wurden. Von irgendwoher ertönte ein fernes Rauschen, das er zuerst für unterirdische Luftzüge hielt. Doch als es lauter wurde und Schweißperlen über sein Gesicht rannen, wurde ihm klar, dass er vergeblich auf kühlende Winde wartete. Zuletzt wurde das Fauchen zu einem infernalischen Brüllen, und als sich die Drachen nacheinander durch eine Öffnung hinaus auf ein Plateau schoben, geradezu verstohlen für Wesen ihrer Größe, erkannte auch Niccolo den Ursprung des Lärms.
In den verbotenen Büchern seines Vaters hatte er von der Hölle gelesen, jenem Ort, an dem die Sünder bis in alle Ewigkeit in Feuern und Glutöfen schmorten. Er hatte das stets für Aberglauben gehalten, für den gleichen hohl-köpfigen Unfug wie die Predigten der Zeitwindpriester.
Aber nun sah er den Ursprung dieser Legenden mit eigenen Augen - jedenfalls so lange, bis die Hitze sich wie ein Schleier über seine Sicht legte und er die Lider schließen und das Gesicht abwenden musste. Selbst dann noch fühlte es sich an, als müssten seine Augäpfel verdampfen. Es roch nach angesengtem Haar, und zwei, drei Herzschläge lang war er überzeugt, er selbst hätte Feuer gefangen und müsste bei lebendigem Leibe verbrennen.
Dann aber blickte er wieder nach vorn und sah, dass
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