Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
sie dort sah, war die legendäre Quelle des Lavastroms, befreit von dem Gebirge, das sie all die Jahrtausende über verborgen hatte.
Andere hätten beim Anblick Pangus womöglich den Verstand verloren oder sie hätten - wie Feiqing - ihr Heil in einer Ohnmacht gesucht. Aber Wisperwind sah im Stammvater aller Riesen vor allem eines - ihren Feind. Seine Größe beeindruckte sie nicht mehr als die des unendlichen Sternenhimmels. Für sie war er eine Naturgewalt, nicht unbegreiflicher als eine Flutwelle, ein tropischer Sturm oder eine Lawine aus Eis und Schnee. War Pangu ein Gott? Nicht in ihren Augen. Er war der Weltenschöpfer, älter und größer als die Götter. Aber manche behaupteten, das Leben sei aus den Ozeanen an Land gekrochen - und hatte Wisperwind deshalb beim Anblick des Meeres jemals mehr als einen Schauder empfunden? Nein, sie war Pangu nichts schuldig, weder Ehrfurcht noch Verehrung. Und wenn sie überhaupt etwas dachte, während sie zu ihm hinübersah, dann nur das, was ihr im
Angesicht eines jeden Gegners durch den Kopf ging: Wie kann ich ihn töten? So schnell, so präzise und so gründlich, dass nicht einmal der Aether ihn erneut zum Leben erwecken konnte.
Die Antwort darauf gab sie sich selbst: Du kannst es nicht. In gewisser Weise war das schlimmer als die Orgie der Zerstörung, die Pangus Erwachen entfacht hatte. Wisperwind war es gewohnt, alle Schwierigkeiten mit ihrer Kampfkunst aus dem Weg zu räumen, mit ihrer Klinge und der Lehre des Tao. Diesmal aber war sie hilflos.
Es hätte keiner Meditation bedurft, um zu diesem Schluss zu kommen. Und doch versuchte sie jetzt auch innerlich zur Ruhe zu kommen. Sie verlangsamte ihre Atmung, ließ ihre Konzentration in kleinen Schritten durch ihren gesamten Körper wandern, und schließlich schwebte nicht nur ihr Körper im Nichts, sondern auch ihr Geist.
Ohne Ängste, ohne Ziele, ohne jeden Gedanken.
Abermals fiel ein Schatten auf sie. Sie schrak hoch und blinzelte aus dem Felsspalt ins Freie. Zu spät für den Federflug. Erfüllt von einer wohltuenden Gelassenheit erwartete sie den tödlichen Aufschlag.
Der Schatten wurde größer.
Er hatte Vogelschwingen.
Die Wendeltreppe ins Innere der Wolkeninsel erschien Alessia dreimal so lang wie zuvor. Für einen Moment erwog sie diesen Gedanken ganz ernsthaft: Wenn die Welt sich veränderte und neu formte, dann mochte das auch für so nichtige Dinge wie diese Treppe gelten. Für alles, das existierte, lebendig oder tot. Auch für sie selbst.
Zuletzt humpelte sie in den goldenen Schein des Aether-fragments und bestürmte es mit Fragen.
»Es ist geschehen«, sagte die Stimme im Licht, als Ales-sia für einen Augenblick innehielt, um Atem zu holen. »Der Aether ist in Pangus schlafenden Körper gefahren und hat ihn erweckt. Er hat sein Ziel erreicht, auch ohne die Wolkeninsel.«
»Warum sind wir dann noch am Leben?«
Das Fragment ließ sich Zeit, ehe es antwortete: »Die Wolke verliert bereits an Höhe. Aber sie sinkt langsam und wird nicht am Boden zerschellen.«
Unter anderen Umständen wäre das ein Grund gewesen, um vor Erleichterung außer sich zu geraten. Aber Alessia hatte mit angesehen, wie sich der Horizont in ein Inferno aus Staub und Felstrümmern verwandelt hatte. Ihre Angst überwog bei weitem das Staunen über die Tatsache, dass das Wolkenvolk zum ersten Mal seit zweihundertfünfzig Jahren festen Boden betreten würde.
»Hast du uns gerettet?«, fragte sie.
»Ich habe mich ... widersetzt «, entgegnete die Stimme zögernd. » Wir hätten schon vor einem Tag hier sein können. Ich habe den Flug der Wolkeninsel verlangsamt.«
Alessia verschlug es fast die Sprache. »Seit wann ... Ich meine, wann hast du diesen Entschluss gefasst?«
»Schon sehr früh. Nach unseren ersten Gesprächen.«
»Aber du hast die ganze Zeit über so getan, als wüsstest du nicht, wie dü dich entscheiden sollst! Ob du uns in den Tod stürzen sollst oder nicht!«
»Ich konnte nicht offen sprechen. Ich war ein Teil des Aethers. Der Aether ist wieder geflossen, durch die Pumpen herab in die Insel und zurück in die Regionen jenseits des Himmels. Und er hat von unseren Gesprächen gewusst, Alessia. Hätte er ernsthaft geglaubt, dass ich mich seiner Anordnung widersetze und euch am Leben lasse, dann hätte er die Pumpen auf der Stelle zum Stillstand gebracht. So wie er es schon einmal getan hat. Die Wolkeninsel wäre abgestürzt und ihr alle dabei ums Leben gekommen.«
»Dann hast du die ganze Zeit über nur so
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