Das Wolkenzimmer
Ob er sich daran erinnert oder ob man es ihm nur erzählt hat - er weiß es nicht.
An Hermann erinnert er sich immer. Obwohl der schon ewig fort ist und Jascha unsichtbar bleiben muss, bis er ihn wiedersieht. Bei Hermann könnte es sein, dass Jaschas Augen feucht werden, das wäre gut möglich, und es ist ihm oft passiert, wenn er auf den Speicher geschlichen ist, weg von Hanni, Else und Adolf und vom Schreien des kleinen Sigi, wenn er ganz allein auf dem Speicher war und sich durch eins der Löcher im Dach die anderen Dächer, den Himmel und den Turm angesehen hat. Dann konnte es sein, dass plötzlich alles verschwommen war, so sehr hat er sich gewünscht, dass Hermann ihn holt oder dass er selbst dorthin kommt, wo Hermann ist, die Adressen hat er ja alle im Kopf. Cincinnati in Ohio, USA, dort ist Hermann jetzt und liest vielleicht gerade den Brief, in dem Jascha geschrieben hat, dass man sowieso nicht auswandern darf. Ein Brief nach Amerika ist lange unterwegs und die Antwort noch länger. Doch wenn nun eine Antwort kommt, was wird der Briefträger dann damit machen?
Jascha erschrickt über diesen Gedanken beinahe so sehr wie über den Fluch des Einarmigen.
»Kruzitürken!« Der Einarmige ist zum Tisch gestürzt, hat mit seiner einen Hand auf den Tisch gehauen, dass der Schmalztopf hüpfte und der Deckel der Kaffeekanne klirrte.
Und nun sagt er gefährlich leise: »Wo bist du, Bursche? Komm heraus!«
21
Veronika hat im Turm ein Stück Kreide gefunden. Jetzt prangt auf der Mauer neben dem Turmeingang die Nachricht:
LOOK OUT MATTIS, NICK IS HERE
Es steht hoch über Kopf, man kann es nicht einfach abwischen. Dazu musste sie einen Stuhl hinuntertragen und auch wieder hinaufschleppen. Sie stellt ihn hinter den Schreibtisch zurück und setzt sich an ein Fenster, um wieder zu Atem zu kommen.
»Wie viele Stufen sind das eigentlich?«, ruft sie.
Der Amerikaner blättert stehend in der Zeitung, die er auf dem Schreibtisch ausgebreitet hat. »Zwei, elf, vierundneunzig«, murmelt er, ohne aufzusehen. »Zwanzig, einundzwanzig, zehn, zwanzig.« Er wendet eine Seite um. »Sieben, einundzwanzig, neun, zehn, drei, acht, drei, fünf, zehn. Sechs, fünfzehn, vier, elf, zehn, fünfundzwanzig. Achtzehn bis zum Kranz, elf bis zur Uhr.«
Veronika starrt zu ihm hinüber. »Das kann nicht sein.«
»Was kann nicht sein?«
»Wie viele Steine hat der Turm?«
»Ich bin kein Mauergeher. Nur ein Treppengeher.« Jetzt hat er etwas Interessantes in der Zeitung entdeckt, er angelt sich den Stuhl mit dem Fuß.
»Kein Mauergeher? Das beruhigt mich, Mr James.« Veronika grinst. Ein Mauergeher könnte die sechs Worte abreiben, die sie auf die Wand geschrieben hat. Wenn sie die Kreide nicht gefunden hätte, wäre sie vielleicht nie darauf gekommen, es zu tun. Immer wieder versuchen Leute, sich an Balken und Wänden zu verewigen, und der Amerikaner wäscht es ab. Nun hat sie sich auch - nein, nicht verewigt, aber doch bemerkbar gemacht, aus Angst, dass Mattis, wenn er hierherkommt und sie nicht auf Anhieb entdeckt, den Ort verlässt, ohne lange gesucht zu haben.
Doch wenn es schon geschehen ist? Veronika spürt einen heftigen Stich. Sie muss reden, egal was.
»Und zusammen? Wie viele Stufen sind es zusammen?«
»Ich schlage vor, du zählst sie einfach«, meint der Amerikaner abwesend.
»Aber wenn Sie’s doch schon wissen...«
Er sieht von der Zeitung auf. »Wozu hast du den Stuhl benötigt?«
»Ich habe ihn korrekt zurückgebracht.«
Seine Lippen zucken. Aber er sagt nichts.
»Wenn ich Tag und Nacht und immer auf dem Turm wäre, würde ich auch die Stufen zählen«, nimmt Veronika das Gespräch beim Abendbrot wieder auf.
»Warum?«
»Einfach so.«
»Du würdest alles zählen«, sagt der Amerikaner. »Die Kirchtürme in der Ebene... Es sollen neunundneunzig sein.«
»Nein!«, ruft sie überrascht. »Das glaube ich nicht!«
»Es stimmt auch nicht. Du siehst von oben an einem sehr klaren Tag zweiundsiebzig Orte.«
»Zweiundsiebzig?«
»Du warst doch oben.« Er sieht sie an. »Bist du seit dem ersten Tag nie mehr auf dem Kranz gewesen? Du solltest hinaufgehen. Es ist lehrreich, hinunterzuschauen.«
Veronika runzelt die Stirn. »Ist das jetzt Zynismus?«
»Nein«, sagt der Amerikaner. »Es ist einfach nur ein Tipp.«
»Danke«, sagt sie und rümpft die Nase.
Der Abendschein färbt die Türmerstube rosa. Nach der kurzen Regenperiode ist der Sommer zurückgekehrt und der Besucherstrom riss den ganzen Tag nicht ab.
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