Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
Vom Netzwerk:
Stadtpolizist Steidle Jascha an der Hintertür erwischt, wo die Sonne hinschien. Jascha hat erschrocken das Lexikon unter die Beine geschoben, ein anderes Versteck gab es nicht. Der Stadtpolizist Steidle wollte es sehen, denn verbotene Bücher muss er auch melden. Aber das Lexikon war nicht verboten und Jascha durfte es behalten. Nur als er sagte, dass es von seinem Vater sei, fuhr ihn der Stadtpolizist Steidle an, er solle nur reden, wenn man ihn gefragt habe.
    Damit ging er hinein, um die Zimmer und die Leute zu zählen.
    Jascha wurde nicht mitgezählt, obwohl der Stadtpolizist Steidle ihn nicht vergessen hatte - er sagte nämlich zu Tante Kühn, sie solle ihre Bälger im Haus behalten. Dann ging er zur Vordertür hinaus und riss den Arm hoch, weil gerade jemand vorbeikam. Heil Hitler, sagte er.
    Genauso zackig verabschiedete er sich von Grete, sodass es die Nachbarn hören konnten, an diesem warmen Tag, an dem alle Fenster offen standen. Man habe ihr undeutsches Benehmen mehrfach beobachtet, hat er im Meldeton gerattert. Eine Anzeige sei beim Kreisamt eingegangen, und er wäre beauftragt, die Verwarnung zu überbringen. Sie solle sich überlegen, welche Stellungnahme eine anständige Deutsche zur jüdischen Rasse zu bekunden habe. Wenn dem Amt noch einmal etwas zu Ohren käme!
    Von da an lag kein Essen mehr unter dem Bottich.
    Nichts Schlechtes ohne Gutes, hat Onkel Kühn seine Frau getröstet, jetzt ist mehr Frieden im Haus, weil sie dir nicht mehr neiden, dass du Sachen bekommst, die es auf jüdische Lebensmittelkarten gar nicht gibt.
    Ein großer Trost war es nicht.
     

31
    Wenn wir hier wenigstens einen Fernseher hätten«, seufzt Veronika. »Oder einen Computer...«
    »Das beklagen meine Verwandten auch«, sagt der Amerikaner. »Sie würden mir gern Mails schicken.«
    »Kommen die eigentlich auch mal zu Besuch?«
    »Meine Großnichte ist doch hier.«
    »Ha, ha.«
    »Nein, bisher hat mich niemand besucht. Es sind ja erst acht Jahre, seit ich in Deutschland bin.« Er zwinkert.
    »Erst!«, sagt sie humorlos. »Wie Sie das bloß aushalten, ständig im Turm. Und ohne Urlaub. Krank werden Sie ja auch nicht, sonst hätten Sie mal Zwangsurlaub in der Klinik.«
    Veronika ist gereizt. Sie hätte sich abends gern in der Stadt umgesehen, aber der Amerikaner rückt den Schlüssel nicht heraus. Also sitzt sie wieder mit einem Buch am Tisch in der Stube. Dort gibt es wenigstens eine helle Lampe, im Gegensatz zum übrigen Turm, wo nur trübe Funzeln brennen. Der Amerikaner ist vor zwei Minuten vom Kranz zurückgekommen, wo er aus jeder Himmelsrichtung auf die Stadt hinabgerufen hat. Jetzt liegt außer der einheimischen Tageszeitung die Washington Times vor ihm, das Exemplar, das an seinem Geburtstag in der Post war.
    »Und wird man nicht wahnsinnig«, sagt sie, »wenn man jeden Abend dasselbe vom Turm schreien muss und das auch noch alle halbe Stunde?«
    »Im Gegenteil, man wird ruhig«, sagt der Amerikaner. »Mir scheint, du hast jetzt genug von meinem Domizil?« Er schiebt die Tageszeitung, die er schon gelesen hat, beiseite und fügt hinzu: »Ich begrüße das.«
    »Weil Sie mich endlich loswerden.«
    »Nein, ich begrüße es deinetwegen. Weil du wieder eine Perspektive siehst.«
    »Was für eine Perspektive denn?«
    »Das weißt nur du selbst. Sollte dein Freund nicht kommen...«
    »Er kommt!«, ruft Veronika mit aufgerissenen Augen.
    »Sollte dein Freund nicht kommen, so macht das keinen Unterschied.« Ihren Protest tut er mit einer Handbewegung ab. »Doch, doch, Nick, es ist so.« Dann greift er nach der amerikanischen Zeitung und schlägt sie auf. »Hier ist die Geschichte von einem, der keine Perspektive hatte, sein Leben war praktisch vorbei. Ein Freund hat sie mir geschickt.«
    »Als Geburtstagsgeschenk«, sagt Veronika.
    Der Amerikaner wirft ihr einen überraschten Blick zu. »Notierst du meine Posteingänge?«
    Veronika zuckt mit den Achseln. »Reiner Zufall, dass ich die Zeitung an dem Tag gesehen habe.«
    »Sie ist allerdings vom Mai«, sagt er und dreht das Blatt für sie herum. »Hier.«
    Der Artikel ist lang und beginnt mit President Bush.
    »Ach du meine Güte«, seufzt sie, »das sieht gar nicht nach einer spannenden Geschichte aus.«
    »Es enthält aber eine. Willst du, dass ich sie dir erzähle?«
    »Ja, das wäre mir lieber. Wenn’s geht, ohne Politik.«
    »Alles ist Politik«, sagt der Amerikaner. »Und ein Mensch treibt darin wie ein Fetzen Papier im Sturm. Der Terroranschlag am elften September,

Weitere Kostenlose Bücher