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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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trockenen Mund. »Mama«, sagt sie, »ich hab mein Handy verloren. Tut mir ganz arg leid, wenn ihr euch Sorgen gemacht habt. Daran hatte ich irgendwie nicht gedacht. Aber wenigstens habt ihr mich sofort gefunden. Genial, dass Mattis sich noch daran erinnert hat, wo ich ausgestiegen bin«, sagt sie, und diese paar Worte sind aus Säure und brennen im Hals. »Wann ist er zurückgekommen? Nicht dass es mich wirklich interessieren würde...«
    »Gestern Abend«, sagt ihre Mutter. »Wir hatten noch nicht mit euch gerechnet...« Ihre Stimme fängt wieder zu beben an. Mattis habe unverhofft an der Tür gestanden, tief gebräunt, und sie habe erwartungsvoll um ihn herum zum Auto gesehen und gefragt: Wo ist denn Vera? Da sei Mattis unter seiner Bräune blass geworden. Ist sie denn nicht hier?, habe er gestottert.
    Ihrer Mutter wird der Hörer entrissen. Ob sie sich eigentlich den Schock und das Entsetzen ihrer Eltern vorstellen könne? Oder ob sie möglicherweise keinen Funken Ahnung habe, wie Eltern empfinden, wenn ihre Tochter verschwunden sei?, will ihr Vater empört wissen.
    Veronika schirmt sich angestrengt gegen seinen Zorn ab, sie denkt an das, was da gleichzeitig passiert ist: Mattis suchte sie zu Hause, während sie mit dem Amerikaner feierte. Und wie doch die Empfindungen unterschiedlich sein können: Verstörung bei den einen, Glück bei den anderen. Nun ja, falls es Glück war, denkt sie.
    Dann erobert sich ihre Mutter den Hörer zurück. Sie könne  nicht begreifen, was Mattis sich dabei gedacht habe, allein nach Italien zu fahren und Vera irgendwo sitzen zu lassen. Unverantwortlich sei er, unverantwortlich! Sie seien grenzenlos enttäuscht von ihm. Aber ganz und gar nicht verstehen könnten sie, dass Vera nicht sofort nach Hause gefahren sei. Sie hätte doch kaum Geld mit, sie müsse doch auch essen!
    Veronika unterbricht ihre Mutter. »Logisch hab ich nicht viel Geld! Du weißt doch, dass ich mit Mattis hinterher abrechnen wollte.« Ein bitteres kleines Auflachen entschlüpft ihr nach diesem Wort, es hört sich wie ein Schluchzer an, und sie redet erschrocken weiter. »Mir ist auch nichts passiert, niemand hat mir etwas angetan, ich wohne einfach hier. Und warum nimmst du denn das Essen so wichtig, ich kriege schon genug.«
    Da raunt ihre Mutter dem Vater etwas zu. Er zischelt zurück, und Veronika begreift, was ihnen Sorge bereitet.
    »Was redet ihr denn da?«, sagt sie und weiß nicht, ob sie lachen oder heulen soll. »Was glaubt ihr, wie alt der Mann ist? Siebzig! Also ehrlich, wie könnt ihr so etwas denken!«
    Es müsse doch einen Grund geben, warum sie auf dem Turm sei, verteidigt sich ihre Mutter, während ihr Vater im Hintergrund einfach nur wissen möchte, wann sie nun heimkäme.
    Veronika holt tief Luft. »Mama, ihr habt ja gesehen, dass Mattis auch ohne mich leben kann...« Sie schluckt schwer und fährt mit belegter Stimme fort: »Ich bleibe hier, bis er weg ist, ich will ihn ganz bestimmt nicht sehen! Er fliegt übermorgen - so lange bin ich auf jeden Fall auf dem Turm. Ich melde mich bei euch am Mittwoch, okay? Für die Bahnfahrt reicht mein Geld noch«, lügt sie und sagt dann erschöpft: »Ich muss jetzt die Leitung frei machen für die Wettermeldung. Ruft bitte nicht mehr an, das ist ein Diensttelefon.«
    »Mittwoch«, hört sie ihre Mutter dem Vater zurufen, bevor sie den Hörer auflegt.
    Ihr ist übel, als sie zum Waschen hinuntergeht. Der Amerikaner ist damit beschäftigt, in Ruhe die Girlanden abzunehmen. Er macht keinen Versuch, mit ihr zu reden.
    Erst als sie zurückkommt, sagt er: »Willst du etwas vom Bäcker holen oder genügt dir das Brot von gestern?«
    »Ist mir völlig egal.«
    Er schaut sie an, bis sie ihre Antwort korrigiert.
    »Ich meine, mir genügt das Brot von gestern.« Dann steht sie eine Weile im Vorraum, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden soll: in die Stube, in die Küche, in ihren Schlafwinkel, an ein Fenster. Oder auf den Kranz.
    Der Amerikaner sagt: »Dein Bettzeug liegt noch da.«
    Er geht in die Küche und sie hört gleich darauf Wasser laufen.
    Aber alles, was sie hört oder sieht, berührt sie nicht. Es dringen einfach kein Geräusch und kein Bild zu ihr durch, an die Stelle in ihr, die mit irgendeiner Empfindung reagieren würde. Seit sie den Hörer aufgelegt hat, ist sie platt, als wäre ein Panzer über sie gerollt. Zum Telefonieren hat sie noch alles aufgeboten, was ihr an Aufmerksamkeit und Sprache zur Verfügung stand. Doch das war ein Gewaltakt, der sie

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