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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Bein landete ein Stück entfernt, drei Finger fand man später in der Dachrinne. Die Leiche lag stundenlang auf dem Platz, ehe man sie wegbrachte.«
    Veronika hält eine Weile seinen schmerzerfüllten Blick aus. Dann steht sie auf und räumt wortlos den Tisch ab. Sie trägt die schmutzigen Teller und Bestecke in die Küche, wo sie über die Spüle gebeugt bleibt, als hätte ein Leichenteil sie ins Genick getroffen.
    So findet sie der Amerikaner. Er berührt ihre Schulter.
    »Ich hätte dir besser von dem Jungen erzählt«, sagt er.
    »Das haben Sie doch!«, stöhnt sie.
    »Nicht von dem Jungen. Von dem anderen. Mit dem ich … einen Geburtstag nachholte.«
    Sie wendet ihm ihr erstauntes Gesicht zu. »Dann war das keine Schwindelei?«
    »Das war keine Schwindelei. Aber hast du bemerkt, dass ich den ersten Wächterruf schon versäumt habe? Ich muss jetzt hinauf, denn bestimmt gibt es Menschen in der Stadt, die wach liegen und ihn vermissen. Danach räumen wir auf und du gehst schlafen. Junge Leute brauchen ihren Schlaf und morgen ist auch noch ein Tag.«
     

46
    Der Frühling ist doch noch gekommen und gleich darauf der Sommer. Seinen Geburtstag hat Jascha verpasst, er hat einfach nicht dran gedacht. Jetzt ist er zehn. Er weiß es, weil Hermann ihn das Datum hat auswendig lernen lassen. Auf dem Wandkalender in der Türmerstube, dem Kalender für das Jahr 1942, kann man die zwölf Monate sehen. Jascha hat jetzt bei seinem Tag ein Sternchen in die Zeile gemalt, so winzig, dass es bestimmt keinem auffällt, ein Sternchen, wie es bei Adolf Hitler steht.
    Die meisten Zeilen sind leer. Nur in manchen steht etwas drin: Neujahr, Gründung des »Dritten Reiches«, Heimkehr Österreichs, Heldengedenktag, Karfreitag, Ostersonntag, Ostermontag, Adolf Hitler. Adolf Hitler bedeutet Führergeburtstag und Fahnen und schulfrei, das war immer so. Nur ist Jascha dieses Jahr nicht im Judenhaus, sondern im Kirchendach gewesen und hat nichts davon gesehen. Auch vom Turm aus hätte er nichts sehen können, denn er darf bei Tag an kein Fenster. So wenig, wie er auf den Kranz darf, solange es hell ist, weder auf den oberen noch auf den unteren. Nur bei Dunkelheit lässt ihn der Einarmige manchmal hinaus und steht derweil an der Treppe und horcht, und Jascha passt auf, dass er sich nicht gegen den helleren Himmel abzeichnet. Er bleibt mit dem Rücken an der Mauer und pickt höchstens lose Steinchen von der Balustrade, die er sammelt, weil er sich damit die Tage im Dach vertreiben kann.
    Im Dach gibt es jetzt Fledermäuse. Sie sind im Frühling eingezogen und haben Junge bekommen und bekleckern die Balken und das Gewölbe. Sie schlafen am Tag und werden abends munter, wenn Jascha das Dach verlässt. Mit den Tauben und den Falken, die um den Turm herum leben und hereinfliegen, wenn sie können, ist es umgekehrt, sie jagen bei Tag und schlafen bei Nacht. Früher beobachtete Jascha vom Judenhaus aus die Flugmanöver der Falken. Das geht jetzt nicht mehr. Dafür ist er ihnen viel näher - sie und die Tauben sitzen oft auf den Fenstersimsen, in unterschiedlichen Stockwerken, denn sie gehen einander aus dem Weg. Er kehrt ihre Häufchen von den Stiegen und darüber ist der Einarmige froh. Einen Besen, findet er, hält man mit zwei Händen allemal leichter als mit einer Hand.
    Im Turm vergeht die Zeit schnell und im Dach langsam. Deshalb fragt Jascha, ob er nicht vielleicht das Lexikon mitnehmen und im Dach verstecken darf.
    Aber der Einarmige antwortet mit Nein, noch bevor Jascha ausgeredet hat. »Was sag ich dem Steidle, wenn er danach fragt? Und was passiert, wenn man das Buch im Dach findet? Nein, das kannst du dir aus dem Kopf schlagen, das ist viel zu gefährlich.«
    Jetzt liest Jascha frühmorgens darin. Er rollt leise vom Strohsack, und wenn der Einarmige aufsteht, sitzt er bereits in der Stube am Tisch und blättert im Buch.
    »An dir ist ein Doktor verloren gegangen«, brummt der Einarmige. »Oder ein Notar. Oder ein Lehrer. Meine Buben haben freiwillig in kein Buch geschaut.« Er zieht den Strohsack am Ofen vorbei zu seiner Pritsche, und Jascha rutscht hinter dem Tisch hervor, um mit anzupacken.
    »Oder ein Verleger«, sagt er. »Wie mein Vater.« Er geht wieder zum Tisch und der Einarmige setzt sich gähnend auf die Ofenbank.
    Ein Verleger macht Bücher, hat Hermann gesagt. Solche  wie das Lexikon und andere. Unser Vater hat viele Bücher gemacht, und es ist schrecklich, dass wir nichts, aber auch gar nichts aus dem Haus holen konnten,

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