Das Wolkenzimmer
bevor sie es versiegelten. Das Lexikon ist alles, Jascha, und wir haben es nur deshalb, weil du darauf gesessen hast, als uns Großmutter zu Tante Sophie bringen wollte. Du hast ein Geplärre gemacht, denn das Lexikon war dein Lieblingssitz, und deshalb hat Großmutter es mir unter den Arm geschoben. Das Lexikon ist aber gar nicht aus Vaters Verlag, es stammt aus Leipzig, schau, da steht es. Und Hermann hat es ihm gezeigt.
»Stimmt es«, sagt der Einarmige von der Ofenbank her, »dass dein Vater Hetzschriften gedruckt und die Schandblätter in Augsburg verbreitet hat? So hat es jedenfalls geheißen.«
Jascha schaut auf. Er versucht zu verstehen. Sein Finger hält die Zeile fest. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1925.
Der Einarmige sitzt am Ofen, mit einem Gesicht, als würde er seine Worte gern in den Mund zurückholen. »Du wirst das aber wahrscheinlich gar nicht wissen. Sowieso hat es keine Bedeutung mehr.« Er winkt ab.
Aber da legt Jascha die gekreuzten Arme aufs Buch und holt Luft für das, was Hermann ihm eingehämmert hat. Auch wenn du es jetzt nicht verstehst, hat Hermann gesagt, das ist die Wahrheit, und die musst du genau kennen, Jascha, da muss einfach jedes Wort stimmen, wir lernen das auswendig. Und so sagt Jascha jetzt mit heller, vor Erregung kippender Stimme, was er bis heute nicht wirklich versteht: »Ich weiß alles genau! Mein Vater Max Rosen hat ein Flugblatt gedruckt. Das war sehr mutig! Das Flugblatt wurde von einem anderen Verleger in Augsburg in die Kinowerbung geschmuggelt. Max Rosen hat gedacht, die Nazis finden nicht heraus, wo das Blatt gedruckt wurde. Aber sie haben es herausgefunden. Und dann haben sie Max Rosen abgeholt und Fanny Rosen auch und …« Jaschas Stimme bricht, denn von dieser Stelle an versteht er, was er sagt, und Max Rosen ist ja sein Vater gewesen, und Fanny Rosen war seine Mutter, und alles Furchtbare ist ihnen passiert.
»Ich weiß.« Der Einarmige redet ungewohnt schnell, als könnte er damit verhindern, was nach dem Abholen passiert. »Ein Flugblatt, sagst du? Und was hat darauf gestanden?«
»Namen«, sagt Jascha. Er wischt sich über die Nase. Er muss sich sehr konzentrieren. Jeden Tag wiederholen, hat Hermann verlangt, aber Jascha hat es nicht immer getan. »Die Namen von deutschen Wissenschaftlern und Schriftstellern und Musikern. Sie haben nicht mehr im deutschen Reich arbeiten dürfen«, sagt er, »weil sie Juden waren. Sie mussten auswandern. Darunter standen drei Sätze …« Er springt von der Bank auf. Es geht jetzt ganz leicht, denn die drei Sätze hat er sich immer gut merken können, sie klingen großartig.
»Deutsches Volk«, ruft er mit unterdrückter Stimme, wie Hermann gerufen hat. »Kannst du es dir leisten, Geist, Bildung und Kultur zu verjagen? Deutschland, wohin gehst du? Land der Dichter und Denker - verweigere den Weg in die kulturelle Finsternis, steh auf gegen die braune Herrschaft!«
Der Einarmige schaut ihn erschrocken an. Dann presst er die Kante der Ofenbank mit der Hand und schüttelt lange Zeit den gesenkten Kopf.
47
Am Montagmorgen hört Veronika das Telefon. Es wird abgenommen und sie schläft wieder ein. Dann erwacht sie davon, dass jemand vor ihrem Lager steht.
»Bei der Stadt ging eine Suchmeldung ein«, sagt der Amerikaner.
Sie setzt sich mit einem Ruck auf. »Nach mir?«
Er nickt.
»Oje. Und was haben Sie gesagt?«
»Ich konnte nicht gut leugnen, dass du hier bist. Das junge Mädchen, sagte ich, interessiert sich für die Geschichte des Turms. Ein Schulprojekt. Ich hätte die Schülerin auf meine Verantwortung im Turm untergebracht.«
Veronika schaut ihn mit aufgerissenen Augen an. »Und jetzt?«
»Nun, dein Vater wird jeden Moment anrufen.«
»Nein!« Sie bedeckt das Gesicht mit den Händen.
»Tja«, meint er, »da musst du durch, wie ihr jungen Leute sagt. Vorhin, das war die Polizei. Willst du lieber, dass man dich abholt?«
Punktgenau klingelt jetzt das Telefon.
Veronika steht auf. Sie geht schleppend zur Stube und kämmt sich dabei die Haare ins Gesicht. An der Tür wirft sie aber den Kopf zurück und fährt sich in einer einzigen unwirschen Bewegung mit beiden Händen von vorn nach hinten durch die Frisur. Sie geht hinein und nimmt ab.
»Hallo Papa«, sagt sie.
Aber es ist nicht ihr Vater. Es ist ihre Mutter, die vor Erleichterung heult und wenige Sekunden später in heftige Vorwürfe ausbricht.
Der Amerikaner, der einen Moment gewartet hat, nickt und schließt die Tür von außen.
Veronika hat einen
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