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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Jascha doch nur existieren dürfte!
    In dem Fall besäße er sogar eine Lebensmittelkarte, die er auf die Ladentheke legen könnte. Dann würde die Bäckerin einen Abschnitt wegschneiden und ihm dafür Brot geben - wenn er Geld hätte, um es zu bezahlen. Aber das hat er nicht, ihm würde also auch eine Lebensmittelkarte nichts nützen.
    »Ich müsste verhungern«, sagt er.
    »Ja, du müsstest verhungern«, murmelt der Einarmige.
    Wenn man halbwegs satt ist, ist verhungern allerdings nur ein Wort. Und wenn man den Krieg und alles Schreckliche mal für eine Minute vergisst, liegt man hier auf dem Strohsack beinahe wie auf einer Wolke am Himmel, hoch über den anderen Menschen und in Sicherheit. Aber gleich fällt einem alles Schlimme wieder ein, und das ist, als würde die Wolke kippen. Mit einem bösen Stich in den Bauch weiß man sofort, dass der Offiziant, die Stadtpolizei, die Organistin und der Mesner auch einen Turmschlüssel haben und dass es die Gestapo gibt, die jeden Schlüssel kriegt, den sie haben will. Wenn einer unten aufsperrt, kommt es auf gute Ohren an und darauf, den Wettlauf zur Nische zu gewinnen. Von oben ist die Nische näher als von unten, aber hundertzwanzig Stufen sind keine Kleinigkeit, wenn man nicht gehört werden darf.
    Und alle Tage kann etwas Unvorhergesehenes passieren. Wie letzten Sonntag die Sache mit der verlorenen Lebensmittelkarte, die dem Einarmigen nicht aus dem Kopf will.
    »Du müsstest verhungern«, wiederholt er. »Aber wenn wir von meinen Abschnitten allein leben wollten, hätten wir auch nicht genug zu beißen. - Bub, sag nie was gegen meine Frau. Sie sorgt auch noch für die Alten, ihre Eltern, und kann aus nichts etwas machen. Jetzt hat man ihr eine Polin zugeteilt. Die zwei Weiber haben tagelang Johannisbeeren in Flaschen eingekocht und Apfelgelee in Gläsern. Johannisbeeren und Falläpfel kann man schlecht zählen, verstehst du. Ein Schwein heimlich schlachten, das ist schon schwieriger. Aber auch das schafft sie. Einmal ist ihr die Sau ausgekommen und im Garten herumgelaufen. Ein Nachbar hat sie gesehen, der wird aber schön den Mund halten, der hat selber eine schwarze Sau im Stall.«
    Wenn ein schwarzes Schwein eines ist, das offiziell nicht existiert, ist Jascha auch schwarz. Nur gibt es keinen einzigen Nachbarn, der sich einen schwarzen Juden hält und schweigen müsste, wenn er ihn zufällig auf dem Turm entdecken würde.
    »Herrschaft, dass du diese verfluchte Karte gefunden hast!«, sagt der Einarmige. Das Stroh raschelt, weil ihm der Schrecken vom Sonntag noch in den Gliedern steckt. Die Maiden vom Arbeitsdienst waren auf dem Turm, eine hatte eine Verwandte mit, die zu Besuch da war, und dieser Verwandten fehlte hinterher die Reichsfleischkarte. Vorher ist alles in Ordnung gewesen, die Maiden haben in ihren schönen blauen Röcken und weißen Blusen im Vorraum gesessen und wie die Engel gesungen, ein Lied nach dem anderen, die Lagerführerin ist eine Musikalische, hat der Einarmige Jascha erzählt, aber erst, als alles ausgestanden war. Jascha war wie immer den ganzen Tag im Dach. Er hat den Gesang aus der Ferne gehört. Draußen auf dem Kranz haben sie dann auch noch gesungen, mehrstimmig, und von unten haben die Leute heraufgeschaut. Es hat dem Einarmigen gefallen, er hat sich heimlich zwei Maiden ausgesucht, für seine Buben …
    An der Stelle ist seine Stimme rau geworden und er hat abbrechen müssen und danach hat er nur noch von der Suche erzählt. Die musikalische Lagerführerin hat die Maiden durch alle Winkel gescheucht. Die blauen Röcke sind grau geworden und die weißen Blusen schwarz, aber die Karte wurde nicht gefunden. Die Verwandte hat geheult und hat es  sich nicht erklären können. Vorher, als sie die Fotografien herumgezeigt hat, ist die Karte doch noch da gewesen, und es war eine ganz neue, noch kein Abschnitt hat gefehlt.
    Die Lagerführerin hat dann die Suche abgebrochen und gesagt, sie wird ihr Fahrrad nehmen und zum Fähnleinführer der Pimpfe fahren, sie weiß, wo das Zeltlager ist, die Pimpfe machen heute eine Geländeübung. Die Pimpfe finden alles, hat sie gesagt, sie sind klein und kriechen in jedes Eck. Es könne allerdings ein paar Stunden dauern, sie müssten ja erst anmarschieren.
    Mit Unterstützung der Maiden hat der Einarmige daraufhin die übrigen Ausflügler aus dem Turm gejagt und die Tür abgeschlossen. Er hat Jascha aus dem Dach geholt und atemlos gesagt: »Du musst eine Lebensmittelkarte finden, sonst schwärmen hier

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