Das Wort des Hastur - 12
dachte Alaric und umklammerte mit feuchten Händen den Spiegel – aber wie trügerisch! Das Reich war von Feinden umgeben, wenn es auch schon weniger waren als früher. In den letzten Monaten hatte die frisch erwachte Gabe des Thronerbens Alarics eigene Kräfte unterstützt. Mit dieser Gabe brauchte man keine Armeen mehr; es war nicht länger nötig, daß Männer ihr Leben auf dem Schlachtfeld opferten. Serrano hatte sich gegen Leynier und Rockraven siegreich durchgesetzt und beide Reiche zum Treueeid gezwungen. Aber es gab noch immer hunderte andere, streitsüchtige Königreiche, die alle um die spärlichen Reichtümer Darkovers wetteiferten.
Alarics Ängste lösten sich in einem gepreßten Lächeln auf. Die kommenden Tage würden ihn seinem lang ersehnten Ziel näher bringen. Die Laran -Waffe, die der Prinz in sich trug würde Scathfell ebenso vernichtend schlagen wie Rockraven und Leynier im Winter. Dann wäre der Tod des Königs gerächt – und es würde die ständige Kriegsführung ein für alle Mal beenden. Dyan-Rakhal stand kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag, an dem er auch zum König gekrönt werden würde. An diesem Tag soll er nicht nur König von Serrano werden, sondern Herrscher über alle Bergreiche. Alaric Delleray würde dies für seinen Neffen, auf den er seine ganze Hoffnung und all seinen Ehrgeiz setzte, erreichen.
Natürlich würde der neue König, der vom Lauf der Welt nichts verstand auch weiterhin abgeschirmt bleiben müssen. Dyan-Rakhal sollte sich der eher geistigen und philosophischen Belange der Herrschaft annehmen, während Alaric sich um die alltäglichen Regierungsgeschäfte kümmern würde. Die Serrano-Gabe war überaus mächtig – vielleicht zu mächtig für einen allein. Alaric erzitterte bei dem Gedanken an mögliche Gefahren und verbannte ihn so schnell wie möglich.
Es hämmerte in Dyan-Rakhals Kopf. Er bemühte sich, das Schauern, das seinen Körper ergriff, zu unterdrücken. Seine Hände legten sich um das komplizierte Schnitzwerk der Armlehnen und sein Blick wanderte ruhelos zwischen Loyu und den zieselierten Figuren auf dem Spielbrett vor ihm hin und her. Er war am Zug.
Die Erinnerungen der letzten Monate wurden schmerzhaft aufgewühlt. Rasch zog er einen Bauern vor und überließ sich dann wieder der Flut der Bilder.
Dyan-Rakhal stand in der kleinen Matrixkammer, die sich seinen Gemächern anschloß, an einem Glastisch. Onkel Alaric wachte über ihn und schaute mit seinen blauen Augen ermutigend zu ihm hinab. »Es ist deine Pflicht, mein Neffe. Nutze deine Stärke, Chiyu, nutze deine Gabe. Es ist das größte Erbe, das du besitzt.«
Dyan nickte. Sein Onkel hatte ihm alles beigebracht, was er wissen mußte, hatte ihm die alten Legenden und Balladen vorgetragen und manches Mal mit einem Wiegenlied das ruhelose Kind in das Reich der Träume gesungen … Jetzt war er älter, fast schon ein Mann; ein Prinz noch, aber fast schon ein König. Und so mußte er auch die Pflichten eines Prinzen übernehmen, und das in einer grausamen, feindlich gesonnenen Welt.
Diese Gabe. Seine Gabe.
Sorgfältig holte er seinen Kristall aus dem seidenen Beutel hervor. Er konzentrierte sich auf die weißen Linien des Kraftfeldes, die sich windungsreich über die Tischplatte schlängelten und sich plötzlich zu einer dreidimensionalen Form auftürmten – vor ihm entstand Burg Rockraven, im Winter tief verschneit, dessen Banner im eisigen Wind der Hellers flatterte. Onkel Alaric reichte Dyan-Rakhal eine dünne, weiß-blaue Scherbe. Er nahm sie in die Hand, zielte genau und stieß sie dann mitten in das Modell der Burg. Die Form fiel auf dem Tisch in sich zusammen.
Auf einem Matrixschirm, der eine ganze Wandseite einnahm, konnte der Prinz das Ergebnis seiner zerstörerischen Kraft sehen. Auf Rockraven jenseits der Bergkette brachen riesige Steinblöcke aus den Zinnen und stürzten hinab. Bald standen nur noch die traurigen Überreste einer einst stolzen Burg. Schreie hallten durch die Ruine, bis sie unter herabfallenden Felsen und zerberstenden Balken erstarben …
Dyan-Rakhal kämpfte gegen die tobenden Bilder und die aufsteigende Übelkeit an. Als er seine Gabe das erste Mal gegen Leynier eingesetzt hatte, waren auch Gebäude zusammengestürzt und die Angstschreie der Menschen zu hören gewesen. Aber ihm war das zunächst kaum anders als der Verlust einer Figur in einem Schachspiel vorgekommen. Es sind bloß deine Gegner, hatte sein Onkel ihm erklärt, genau wie die grünen
Weitere Kostenlose Bücher