Das Wort des Hastur - 12
nur, weil er glaubte, ich sei zu schwach, mich zur Wehr zu setzen. Ich schwor mir, es ihm heimzuzahlen, aber er war ein Tenerézu …«
»Ein was?« fragte Anelia.
»Ein Bewahrer«, antwortete Vardin.
»Das kann nicht stimmen«, widersprach sie. »Jedes Kind weiß doch, daß nur Frauen Bewahrerinnen werden können.«
»Das mag heute so sein«, gab Vardin zurück, »aber zu meiner Zeit bekleideten sowohl Männer als auch Frauen das Amt des Bewahrers. In meiner Familie gab es allein drei davon, und jeder von ihnen verbrachte mehrere Jahre im Turm.« Er seufzte. »Meine Mutter hatte fünf Kinder, und außer mir wurden alle zum Bewahrer ausgebildet – ich war der Schwächling. In meiner frühen Kindheit litt ich an einer schweren Krankheit, und deshalb blieb ich bei meiner Mutter und verpaßte die Turmausbildung. Ich nehme an, meine Mutter brauchte auch jemanden, der zu Hause blieb, nachdem alle anderen Kinder fortgezogen waren. Ich wollte auch gar nicht zu den Türmen und den Leuten dort, die genauso überheblich und unangenehm waren wie mein Bruder Armand. Ich haßte ihn und seinen ganzen Klüngel, und ich fühlte mich so verletzt, daß ich die Türme mit all ihren Insassen nur noch zerstören wollte. Deshalb dämpfte ich mein Laran, so daß sie glauben mußten, ich besäße nur sehr wenig davon. Und obwohl ich eine Matrix erhielt, erwartete man von mir kaum etwas. Trotzdem lernte ich natürlich damit umzugehen, das war in einem Haushalt wie auf Gut Leynier unvermeidlich.
Ich begab mich immer wieder auf eigene Faust in die Oberwelt, und dort entdeckte ich, daß meine Gedanken tödlich sein konnten. Das versuchte ich dann auch; besonders die Laranzu’in in Neskaya, wo Armand war, wollte ich töten.«
Anelia war von seiner leidenschaftslos vorgetragenen Erklärung entsetzt. Die Berichte über die Greueltaten im Zeitalter des Chaos waren ja allgemein bekannt. Dann fiel ihr wieder ein, daß er ihre Gedanken lesen konnte.
»Jawohl, ich war so ein bösartiges, totunglückliches Kind, das am Rockzipfel der Mutter hing und über enorme, unkontrollierte Zerstörungskräfte verfügte, von denen niemand etwas ahnte«, erklärte er ernst.
»Schließlich setzten die Laranzu’in aus dem Turm zu Hali meine Seele in der Oberwelt gefangen. Sie schlossen mich, getrennt von meinem Körper, den sie in deiner Welt halb tot, halb lebendig zurückließen, in einen Raum ein. Ich war gerade erst sechzehn Jahre alt. Nur wenn ich meine Taten bereuen würde, so versprachen sie, würden sie mich wieder freilassen. Aber noch haßte ich sie viel zu sehr; jahrelang verfluchte ich sie nur, bis allmählich mein Haß aufgebraucht war. Und schließlich begriff ich die schrecklichen Verbrechen, die ich begangen hatte, und verstand, warum man mich so hart bestraft hatte. Dann wartete ich auf meine Freilassung – aber vergebens. Zuletzt resignierte ich. Bei Zandrus neun Höllen – es ist kalt in der Oberwelt.«
»Zu Zeiten Varzils des Guten wurde der Hali-Turm zerstört«, bemerkte Anelia.
»Und dabei gingen offenbar auch alle Aufzeichnungen über meinen Fall verloren«, stellte Vardin traurig fest. »Jetzt begreife ich wenigstens, warum sich niemand an mich erinnerte. Ich möchte die Oberwelt verlassen, wenn es möglich ist! Aber falls nicht, kann ich jetzt immerhin mit dir reden.«
In den nächsten Wochen veränderte sich Anelias Leben grundlegend. Noch nie hatte sie eine derart innige Vertrautheit im Austausch von Gedanken und Gelächter mit einem anderen geteilt wie jetzt mit Vardin, ihrem körperlosen Freund. Während sie ihren Pflichten nachging, unterhielt er sie fortlaufend mit witzigen und sarkastischen Kommentaren über ihre Aufgaben, über die anderen Diener und den Coridom Rogel und nicht zuletzt über die Herrschaften. Wenn Vardin Lord Damianos aufgeblasene Art, seine Beschlüsse der Familie und Dienerschaft zu verkünden, nachäffte, hatte sie alle Mühe, ernst zu bleiben. Er machte sich auch über Lady Carissas Pingeligkeit und ständiges Lamentieren lustig und hielt dem Lady Marelies stilles Leiden entgegen, das sie klaglos und standhaft ertrug.
»Sie sollte keine Bewahrerin sein«, erklärte er eines Abends Anelia, nachdem diese die Fußmassage bei Lady Marelie beendet hatte. »Sie ist schon jetzt zu schwach, und die Kontrolle der enormen Matrixenergien auf den Relaisstationen könnte sie umbringen.«
Eines Tages beschloß Marelie, das geheimnisvolle Fundstück mit Hilfe ihrer Matrix zu untersuchen. Während sie es
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