Das Wuestenhaus
»Ich kann es nicht erzählen. Lesen Sie.«
3
Die Insel
Der erste Tag auf der Insel war so, wie ich ihn mir erträumt hatte. Eine erträgliche Hitze, grelles hohes Licht, ein überwältigender Himmel. Die schattigen Höfe des Hotels, die leuchtend blanken, blau gemusterten Kacheln im Bad, die dünnen, kaum auf dem Körper spürbaren Decken mit ihren geschwungenen, rankenhaften Blumenmustern - alles duftete nach einer anderen, besonderen Welt. Ehe Sie im Hotel erschienen, herrschte ein leiser, gedämpfter Frieden in diesem abgelegenen Haus am Meer.
Meine Eltern drückten mir in der Hotellobby den Schlüssel für mein Zimmer in die Hand und sagten: »Hoffentlich gefällt es dir.« Das Zimmer lag im zweiten Stock und besaß einen schmalen Balkon, der auf den Strand hinausging. Am Abend saß ich an dem Tisch mit der Glasplatte und den schräg nach außen gebogenen Eisenfüßen. Ich drehte an den Knöpfen des Radios herum, dessen graues Kabel vom Nachttisch bis zu dem Fenstertisch reichte. Ich war fasziniert von den sehr langen Liedern, die aus der runden schwarzen Radiobox drangen, vom
Rhythmus der Musik, den kehligen hohen Lauten der Männerstimmen. Sobald ich den Namen eines Sängers verstanden zu haben glaubte, schrieb ich ihn mir auf einen Zettel. Ich ging ins Bad, duschte mich, hörte die Musik und saß Zigaretten rauchend auf dem Balkon. Ich nahm mir vor, unbedingt nach der Rückkehr in meinen Plattenläden nach solcher Musik zu suchen.
Das Meer lag weit und unbewegt vor dem Hotel mit seinen violett schimmernden Bögen und Wellenrinnen. Weiße Vögel flogen in unmittelbarer Nähe der weit ins Meer reichenden Felsen auf und kreisten über den ruhigen Ausläufern der Brandung, als würden sie nach den aufstiebenden Wassertropfen schnappen.
Nach dem Abendessen, bei dem meine Eltern kaum miteinander redeten, dafür umso mehr Fragen stellten, wie mir das Hotel und die Insel gefielen, gingen wir hinunter zum Strand.
Das Geräusch der in der Dunkelheit hereinbrechenden Wellen, deren Schaum uns über die Füße schoss, war verzaubernd. Mein Vater trug ein dunkelblaues Polohemd und eine weiße Hose. Meine Mutter hatte sich ein langes, dünnes Leinenkleid angezogen, das ihre Schultern frei ließ. Es war ein zartes Hellgrün. Ich erinnere mich noch so genau daran, weil mein Vater mir erzählte, dass in diesem Land Grün die Farbe des Glaubens sei. Er hatte sich natürlich gleich mehrere Bücher über die arabische Welt auf die Reise mitgenommen, sogar ein kleiner Polyglott-Sprachführer
Arabisch lag in seinem Hotelzimmer auf dem Nachttisch.
Bei unserem nächtlichen Strandspaziergang griff ich, zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit, nach der Hand meiner Mutter. Wie zwei alte Freundinnen gingen wir durch den Sand. Sie sagte: »Ich beneide dich um deine warmen Hände, weißt du das?« Meine Mutter hatte wirklich immer kalte Hände, wenn sie nur einen kurzen Moment im Freien war. Mein Vater sagte: »Ihr zwei Verbündeten.«
Ungefähr eine Stunde gingen wir entlang der Brandung, dann kehrten wir um. Auf dem Rückweg entdeckte mein Vater ein altes Ruderboot, das umgedreht im Sand lag.
Er sagte, das sei der richtige Ort. Wir sollten uns auf den Rumpf des Bootes setzen. Meine Mutter lachte und fragte ihn, ob er uns aussetzen wolle.
»Das wirst du gleich sehen. Los, hockt euch auf den Rumpf. Du rechts und Maja links.«
Aus einer kleinen Ledertasche zog er eine Digitalkamera hervor. Ein winziger, silbern glänzender Fotoapparat, den er vor der Abreise gekauft hatte, um uns zu überraschen. »Der Verkäufer hat mir gesagt, sie macht sogar in tiefer Dunkelheit scharfe Bilder.«
Wir setzten uns auf das Boot. Das Licht blitzte zwei-, dreimal grell auf. Wir rührten uns nicht vom Fleck, während mein Vater, in einiger Entfernung vor dem Boot stehend, die Funktionen suchte, die es ermöglichten, die Fotografien anzuschauen. Das Licht des Displays strahlte schwach sein Gesicht an. In der
Dunkelheit sahen wir nur seinen Mund und die Nase, dicht gebeugt über das elektronische Funzellicht. Der Rest seines Körpers verblieb als ungefährer Umriss im Finsteren.
Endlich hatte er es geschafft. Stolz kam er zu uns und zeigte uns auf dem winzigen Display die wie bei einem Kartenspiel angeordneten Bilder. Meine Mutter und ich blickten ernst, als ob wir zum ersten Mal in unserem Leben fotografiert worden wären. Ich trug ein weißes T-Shirt, auf dem in roter Schrift »Alabama« stand. Den Kopf hielt ich viel zu tief, sodass die Augen
Weitere Kostenlose Bücher