Das Wuestenhaus
die Schlüssel entgegen und versprachen, auf das Haus aufzupassen. Alles war wie immer - bis wir alles zum letzten Mal taten. Koffer packen, am Abend vor der Abreise im Wohnzimmer sitzen, Scrabble spielen,
Tee trinken und uns über die Dinge unterhalten, die wir auf der Insel tun wollten.
Mein Vater hatte einen Bildband gekauft, den wir uns, gemeinsam auf der Couch sitzend, ansahen. Menschen mit Turbanen, Frauen, die neben Eseln auf einer dämmernden Dorfstraße liefen, Sandhügel, Bilder von kuppelübersäten Städten und von gelben Felsen umlagerten Ortschaften. Meine Mutter sagte scherzhaft, wir müssten die Tage gut aufteilen; sie brauche unbedingt Zeit, sich auszuruhen, auch von kulturellen Dingen.
Am nächsten Morgen holte uns das Taxi ab; wir luden das Gepäck in den Kofferraum ein. Ich war stolz, als ich sah, dass meine Mutter in ihr Handgepäck meine Bluse gelegt hatte.
Dann fuhren wir zum Flughafen. Sie hat sie nie wieder getragen.
Als er aufsah, wandte die Frau ihr Gesicht zur Seite. Draußen hatte es aufgehört zu regnen. An der Fensterscheibe des Cafés liefen noch vereinzelt Wassersträhnen ab. Ein leichter, zaghafter rötlicher Lichtstreifen drang in der Dämmerung durch die Wolken über den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Bedienung räumte am Nebentisch das Geschirr ab. Er strich sich mit der Hand über den Nacken, der allmählich zu schmerzen begann. Während er gelesen hatte, hatte sich ihr Gesicht für ihn wieder in jenes verwandelt, das er vor Jahren innerhalb weniger Tage so
gut kennengelernt hatte. Wie stark hatte sie sich doch verändert! Die Frau glich äußerlich kaum noch dem Mädchen, das neben ihm am Strand mit schreckgeweiteten Augen den Männern zugesehen hatte, die ihnen langsam im grellen Sonnenlicht entgegengekommen waren. Sie war erwachsen geworden, und dennoch war etwas Mädchenhaftes in der Partie zwischen Augen und Stirn geblieben. Waren tatsächlich nur sechs Jahre vergangen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte? Damals hatte sie es vermieden, ihm länger direkt in die Augen zu sehen - und jetzt? Mit ruhigem, klarem Blick sah sie ihn an; lediglich ihre Lippen zuckten manchmal leicht, wenn er aufsah, so als ob sie fürchtete, er werde plötzlich aufstehen und gehen. Insgeheim hoffte er, dass das Café bald schließen werde. Jeden Moment konnte die Bedienung kommen und die Rechnung auf den Tisch legen. Er würde die Rechnung für sie beide begleichen und sie zur U-Bahn begleiten. Stattdessen sah er, dass neue Gäste das Café betraten, eine Gruppe junger Männer, die sich gegenseitig lachend in die nassen Haare griffen. Ihm fiel ein, dass er seine Sachen in der Redaktion liegen gelassen hatte. Seltsamerweise musste er gerade jetzt an die David-Hockney-Zeichnung denken - die beiden Spaziergänger im Morgennebel, die er noch vor ein paar Stunden gegen ein anderes Bild hatte austauschen wollen. Er würde das Bild hängen lassen. Genau da, wo es war. Er blickte auf den Tisch und beobachtete ihre Hände, die sie fest gegeneinanderdrückte. An ihrer linken Hand war ein silberner Ring mit einem roten Stein zu sehen. Ob er
aus dem Laden der Schwestern stammte? Seine Gedanken versuchten die Bilder einzufangen, die langsam aus der Vergangenheit aufstiegen und sich nur mühsam und schwerfällig wieder zusammensetzten. Gesprächsfetzen, Versatzstücke von Augenblicken, Meeresgeräusche, rissige Häuserwände - warum ließ ihn ausgerechnet jetzt sein sonst zuverlässiges Erinnerungsvermögen so mutwillig im Stich?
Vom Nebentisch sah ein Mann zu ihnen herüber. Vielleicht glaubte er, dass sich hier gerade zwei Menschen trennten, weil so eine überdeutliche Stille zwischen ihnen herrschte. Am liebsten hätte er ihn aufgefordert, seinen Kopf wegzudrehen. Kein einziges vernünftiges Wort fiel ihm ein, die Stille zu durchbrechen. Er fühlte sich wie von einer unsichtbaren Hand an seinem Platz festgehalten. Ja, er kannte die Familie, er kannte die Gesichter der Eltern, er begann langsam wieder zu sehen, was sich auf der Insel abgespielt hatte und welchen Eindruck diese beiden Menschen im Vergleich zu dem Mädchen bei ihm hinterlassen hatten. Und er begann zu ahnen, warum sie ihn angerufen hatte. Hatte er nicht versprochen, sich bei ihnen zu melden, ganz gegen seine Gewohnheit, solche hingesagten Versprechen abzugeben?
»Willst du mir nicht erzählen, was du denkst? Ich will, dass du es mir erzählst. Ich erinnere mich an dich.«
Sie schüttelte den Kopf.
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