Das Wuestenhaus
bist ängstlicher, als ich dachte. Zeig mal deinen Fuß.«
Ich stützte mich auf Ihre Schulter, und meine Mutter strich mit der Hand vorsichtig über meine Fußsohle. »Es ist zum Glück nichts passiert. Lasst uns zurückgehen.«
Sie krempelten sich wieder die Hosen runter und sagten: »In der alten Zeit glaubten die Berber in Nordafrika, dass sich nachts im Wasser die Geister sammeln, mit denen man Träume kühlen kann. Das ist eine schöne Vorstellung, nicht?«
Mein Vater legte die Hand um meine Schulter: »Diese Geister hat unsere Tochter alle schon in sich.«
Auf dem Rückweg fragte Sie mein Vater, ob Sie sich für Religion interessieren würden. Sie erzählten von einem Artikel, den Sie einmal geschrieben hatten, über christliche Gemeinden in der arabischen Welt. Vielleicht hatten diese Menschen ein ganz anderes Bewusstsein für das Christentum, sagten Sie. Eigentlich sei die Bibel auch für Nichtgläubige gut lesbar - als eine großartige, verborgene Feier des Mittelmeers; all die Geschichten der Bibel spielten sich, im Grunde genommen, entlang warmer, lichterfüllter Küsten ab. Die Berichte von Apostelreisen auf Schiffen, die dazugehörigen Schiffbrüche und das unzählige Anlanden an Stränden - davon, sagten Sie, hätten Sie als Kind nur einen gedanklichen, nie einen sinnlichen Eindruck gehabt. Obwohl Ihre Eltern keine besonders frommen Leute gewesen seien, seien Sie doch mit Ihnen ab und zu mal in eine Kirche gegangen - und wenn es heute noch eine Bindung in Ihnen zu dieser Religion gebe, dann komme sie Ihnen nahe in diesen Ländern, im Angesicht der Küsten. Ohne jede Sentimentalität könnten Sie von sich behaupten, eine unerklärliche, tiefe Beziehung zu dem Licht zu haben, das hier herrsche. Mein Vater stimmte Ihnen heftig zu. Er erzählte
von seinem Vater, der ein strenger Katholik und ein verschwiegener Mensch gewesen sei, wie er sich ausdrückte. »Immer nur alles mit dem Kopf entscheiden. Auch beim Bibellesen keine Zweifel zulassen, keine Fragen, keine anderen Sichtweisen.«
Er zögerte einen Augenblick, und ich wusste, was nun folgen würde: Er würde über die Nazivergangenheit seiner Familie zu sprechen beginnen, über das »Problem dieser Generation«. Ich sah, wie meine Mutter ihre Augenbrauen leicht nach oben zog, was sie immer tat, wenn ihr etwas zu viel wurde. Sie hingegen reagierten mit keiner Silbe; stattdessen blieben Sie einen Augenblick stehen und hoben ein Stück schwarzes Holz vom feuchten Sand auf, auf dessen Unterseite winzige käferartige Tierchen krabbelten. Im schwachen Flammenlicht Ihres Feuerzeugs zeigten Sie meinen Eltern diesen, wie Sie sagten, »wimmelnden Mikrokosmos des Meeres«.
Dafür war ich Ihnen dankbar, denn ich kannte jedes Detail der Gedanken meines Vaters zu den Vergangenheitsthemen, und ich hatte befürchtet, er würde sich darin verlieren.
Ich weiß nicht mehr, wie Sie darauf kamen, aber schließlich erzählten Sie, die Hände in die Taschen gesteckt, die alte jüdische Geschichte vom Sündenbock, dem Tier, das in die Wüste geschickt wird, beladen mit den Sünden der Menschen. »Ist das nicht das traurigste Tier der Weltgeschichte? Ich frage mich, ob es in der alten Zeit auch Böcke gegeben hat, die aus der Wüste zurückgekehrt sind, halb verhungerte
Tiere, die nachts durch die Straßen der Städte liefen und ihre imaginäre Ware einfach zurückbrachten.«
Später, im Hotel, als meine Eltern schon schlafen gegangen waren, saßen Sie noch draußen auf der Terrasse, einen Pullover um die Schultern geschlungen, und notierten sich etwas in Ihr kleines schwarzes Notizbuch. Das Nachtlicht auf der Terrasse erhellte schwach den Boden. Ich setzte mich neben Sie auf die mit Decken belegte Bank vor dem Glasanbau und rauchte eine Zigarette. »Darf ich?«
»Natürlich. Ist dir nicht kalt?« Sie gaben mir Ihren Pullover und legten ihn mir um die Schultern.
»Kannst du nicht schlafen?«
»Bin überhaupt noch nicht müde.« Ich bot Ihnen eine von meinen Zigaretten an.
»Danke. Ich rauche nicht mehr. Das Feuerzeug habe ich nur noch aus Gewohnheit bei mir.«
»Wenn das meine Eltern hören, werden Sie noch mehr von Ihnen begeistert sein.«
»Es ist nicht meine Absicht, deine Eltern zu begeistern.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Warum sagst du denn die ganze Zeit Sie zu mir? Wie alt bist du eigentlich?«
Ich log. »Achtzehn.«
Sie drehten Ihren Stift in den Händen. Ich beobachtete Ihre schlanken Finger, die den Stift nun wie bei einem Zaubertrick
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