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Das Wuestenhaus

Titel: Das Wuestenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Wolfram
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in meinem Leben.
    Hätten Sie ein wenig mehr aufgetrumpft, dann hätte sich mein Vater rasch zurückgezogen. Er war empfindlich, was das anging - wenn ihm jemand das Gefühl gab, seinen Meinungen und Überzeugungen würde es an notwendigen Erfahrungen fehlen. Sie aber machten das viel geschickter. Sie stellten ihm Fragen, hörten ihm ruhig zu, ließen sich alles erzählen, was ihm in den vergangenen Tagen durch den Kopf gegangen war. Sogar einen Buchtitel, den er Ihnen nannte,
notierten Sie sich auf einem zerknitterten Zettel, den Sie aus Ihrer Geldbörse zogen. Und natürlich waren Sie höflich und merkten sofort, dass zwischen meinen Eltern eine schwierige, angespannte Stimmung herrschte. Meine Mutter sei Englischlehrerin, das sei spannend. Sie hätten einen schrecklichen Englischlehrer in der Schule gehabt; er habe Ihnen die Canterbury Tales auf Deutsch vorgelesen. Damit haben Sie meine Mutter zum Lachen gebracht. Sie erzählten noch ein paar weitere solcher Anekdoten, an die ich mich nicht erinnern kann, die aber alle ihre Wirkung zeigten: Die Zuneigung meiner Eltern zu Ihnen wuchs von Minute zu Minute.
    Einmal sahen Sie mich direkt an und sagten: »Du kennst die Leute im Hotel schon gut, oder? Ich habe dich heute Morgen in der Lobby gesehen, wie du mit den Kellnern gesprochen hast. Es ist immer gut, sich mit den richtigen Leuten anzufreunden.«
    Meine Eltern sahen sich erstaunt an - Sie hatten nichts davon mitbekommen, dass ich mit Tamir und einigen anderen Kellnern auch außerhalb der Essenszeiten geredet hatte.
    Während Sie den Fisch aßen, den Ihnen Tamir serviert hatte, sprachen Sie ein paar Worte auf Französisch mit ihm.
    »Ich mag die Menschen hier auf der Insel. Sie sind sehr freundlich, obwohl sie wirklich private Gespräche vollkommen vermeiden.«
    »Da irren Sie sich. Tamir spricht ausgezeichnet Deutsch. Er vermeidet gar nichts.«

    Ich war über mich selbst verwundert, dass ich diesen Satz so selbstbewusst und deutlich gesagt hatte.
    »Maja, bitte. So hat er das nicht gemeint.« Meine Mutter lächelte entschuldigend.
    »Das macht nichts. Sie hat recht. Verallgemeinerungen sind dumm.«
    »Warum reden Sie dann in Verallgemeinerungen?«
    Ich versuchte, Sie zu provozieren. Vielleicht wollte ich, dass Sie erst gar nicht auf die Idee kamen, in mir die Schülerin zu sehen, die noch mit ihren Eltern in den Urlaub fährt.
    Nach dem Essen tranken Sie Bier, wobei Sie einmal kurz rot wurden, als meine Mutter Ihnen sagte, Sie hätten eine kleine Schaumspur im Mundwinkel. Das war das einzige Mal, dass ich an diesem Abend einen Anflug von Verlegenheit bei Ihnen entdeckte - wie Sie sich schnell mit dem Handrücken über den Mundwinkel fuhren. Dabei sahen Sie mich mit Ihren durchdringenden blauen Augen an, ohne Scheu und Überlegenheit.
    Mein Vater lud Sie ein, uns nach dem Essen auf einem Strandspaziergang zu begleiten. Spätestens da hätten Sie ablehnen müssen, wenn doch der einzige Grund Ihres Interesses an uns Ihre gut versteckte Langweile war. Stattdessen tauchten Sie wenig später in einem grünen T-Shirt und einer dunklen Sporthose in der Lobby auf, lachten und sagten, es sei seit Tagen das erste Mal, dass Sie sich »ausgeruht« fühlten.
    Wir gingen den gleichen Strandweg entlang wie an unserem ersten Abend. Es war eine windstille,
ruhige Nacht. Das Meer war kaum zu hören. Ich erinnere mich an einen großen Sternenhimmel, überall herrschte ein mächtiges kühles Flimmern. Meine Mutter fragte Sie, welches Sternzeichen Sie seien. Sie antworteten, Sie seien Skorpion. »Ein untypischer Skorpion, viel zu unorganisiert.«
    Wir gingen bis zum äußersten erreichbaren Rand des Strandes, wo sich einige Steinhaufen befanden, auf denen alte zerrissene Fischernetze lagen. Im Hintergrund zeichneten sich die Umrisse einiger Betonhütten ab, die wohl einmal als Bootshäuser gebaut worden waren. Sie krempelten sich Ihre Hosen hoch und gingen so weit in das Wasser hinein, dass die Brandung Ihre Knie traf. Sie nickten uns zu, es ebenso zu machen. »Kommen Sie - es ist wirklich erfrischend.«
    Ich tastete mit den Füßen vorsichtig durch den feuchten Sand. Das Wasser biss kalt an meinen Beinen. Plötzlich spürte ich etwas Scharfes an meinen Füßen, ein Tier oder eine Muschel, ich schrie auf und stolperte. Sie sprangen lachend an meine Seite und hielten mich an den Schultern fest. »Langsam, Maja!« Ich griff automatisch nach Ihrem Arm. Auf Ihrem T-Shirt waren lauter Wasserspritzer zu sehen. »Das war ein Krebs, oder? Du

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