Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Wuestenhaus

Titel: Das Wuestenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Wolfram
Vom Netzwerk:
Schritte zurückgingst. Die Aufnahme war während des Festes entstanden. Ein paar Zweige tanzen ins Bild. Im Hintergrund hört man Musik. Leute reden. Die Stimme meines Vaters ist leise zu hören. Er scheint leicht zu taumeln, denn der Film schaukelt wie auf einem Leiterwagen, der über ein Kopfsteinpflaster holpert. Wieder die weiße Rückfront des Hauses, Fenster.
    »Sie halten die Kamera viel zu tief. Noch ein bisschen höher. Jetzt müssen Sie die Kamera langsam bewegen«, erklärst du ihm, ganz konzentriert, mit deiner einfühlsamen Stimme. Dann tauchst du selbst im Bild auf. Deine Augen sind ruhig und spöttisch. Auch dein Gesicht ist leicht gerötet, aber du bist nicht betrunken. Du kommst immer näher.

    »Ich schaff das schon«, ruft mein Vater, »man braucht eben ein bisschen Übung.«
    Plötzlich ist sein Gesicht zu sehen, rot, erschöpft, ein glasiger, dennoch fröhlicher Blick. Die Kamera hat sanft die Seiten gewechselt, von seinen in deine Hände. Alles ist ganz klar erkennbar, ohne irgendein Zittern im Bild. Einen kurzen Moment rücken sogar die Augen meines Vaters dicht heran.
    »Jetzt bewegen«, sagst du.
    Langsam gehst du um ihn herum.
    Er lacht, ist verlegen, weil er nicht weiß, was er tun soll. Dann beginnt er wieder, wie schon auf der Tanzfläche, die Augen zu schließen, sich zu drehen, nicht mehr aggressiv, sondern müde, verlangsamt, dir völlig vertrauend.
    Es ist unerträglich, diese kurze Videosequenz zu sehen. Mein Vater ist darauf zu einer Hässlichkeit verzerrt, die mir Übelkeit verursacht. Wie sehr hat er dich bewundert. Und als wie abgrundtief lächerlich musst du ihn empfunden haben.
    Ich weiß nicht, wer meine Eltern umgebracht hat. Eine Zeit lang habe ich mich dafür interessiert. Ich habe Fotos von Männern gesehen, die als Täter infrage kommen. Man hat mir Namen von Gruppen gesagt, deren »Handschrift« das sein könnte. Aber das liegt alles im Schatten. Dich habe ich gesehen in diesem Land. Du hast dich dort bewegt, wie ich dachte, dass man sich bewegen muss, offen, freundlich und bestimmt. Wie du mit Tamir französisch gesprochen hast, wie du den Mietwagen aus der Einfahrt
gefahren hast, wie du über Ziegenböcke, das Blau in alten Säulenhallen und über die Kultur des Orients geredet hast - so, dachte ich, ist es richtig. Deinem Vorschlag sind wir gefolgt, weil du es wolltest. Ein Zufall, sicher, nichts mehr. Aber hättest du uns nicht warnen müssen? Wo es doch brodelte im Land, wie du sagtest? Unruhe herrschte? Wir haben dir geglaubt. Eine weite, freie Welt mit stillen Verstecken, in denen nichts passieren kann. Ist das nicht ein herrlich absurder Traum, dem man folgt, wenn Menschen wie du ihn erzählen? Deshalb habe ich nach dir gesucht.
     
     
    Er klappte das Heft zu. Die Bedienung legte die Rechnung auf den Tisch. Alle anderen Gäste hatten das Café verlassen. Auf den Nebentischen wurden bereits die Stühle hochgestellt. Das Licht war schon vor einer halben Stunde abgedimmt worden. Sein Nacken hatte aufgehört, zu schmerzen. Er zahlte die Rechnung und sah, dass draußen wieder ein feiner Nieselregen auf die Straße fiel. Die ersten Busse der Spätlinie fuhren vorbei. Maja wirkte erschöpft. Während des Lesens hatte er ab und zu ihre Hände betrachtet und sich gefragt, ob er sie unter anderen Umständen wiedererkannt hätte. »Das wilde Labyrinth der Linien auf der Handinnenfläche.« Alle diese Sätze schien ein anderer gesagt zu haben, ein Mensch aus der Vergangenheit. In Kamerun hatte einmal einer der Griots zu ihm gesagt: Die Hände erzählen immer eine andere Geschichte; sie begleiten nicht den Fluss der Wörter,
wie ihr in Europa glaubt, sondern sie warnen uns, immerzu.
    Er sah, wie Maja einen kleinen Schluck Wasser aus dem Glas trank, das vor ihr stand. Ihr Gesicht war blass, aber plötzlich ohne jede Erregung. Wie einen Film hatte sie die Tage auf der Insel in sich aufgespart. Jedes Detail hatte sie sich gemerkt.
    Sie blickte zur Seite und beobachtete die Bedienung, die nun das letzte Geschirr zur Spülmaschine brachte. Eine unbehagliche Stille trat ein.
    Er erinnerte sich, wie er damals aus den Nachrichten von der Explosion und den einundzwanzig Toten gehört hatte. Er hatte im Hotel auf der Insel angerufen und bei der Polizei nachgefragt, aber überall hatte er dieselbe Auskunft erhalten: Die Namen werden nicht freigegeben.
    »Ich war der festen Überzeugung, dass ihr damals nicht zu der Synagoge gefahren seid. Deine Mutter hat mir das klar gesagt. Ich

Weitere Kostenlose Bücher