Das Wuestenhaus
Schuldigen interessieren.«
Ihr Gesicht versuchte ein gequältes Lächeln. »Nicht einmal die Polizei ist sich sicher, wer das ist.«
Sie gingen gemeinsam die Treppe zum U-Bahn-Schacht hinunter. Auf dem Bahngleis standen nur wenige Menschen.
Ein Verkäufer mit den Zeitungen des nächsten Tages stieg aus einem der Waggons. Hinter sich zog er einen roten Handwagen, in dem die druckfrischen Exemplare des nächsten Tages ordentlich hintereinander gestapelt waren.
»Ich begleite dich noch zu deinem Hotel.«
»Danke, ist nicht nötig. Ich fahre lieber allein.«
»Maja? Ich würde dich gern noch einmal sehen, bevor du zurückfährst. Wir haben kaum ein Wort miteinander geredet.«
Als ob sie gegen einen inneren Widerstand ankämpfte, schüttelte Maja den Kopf. »Ich fahre morgen sehr früh.«
Sie zögerte einen Augenblick, dann stieg sie in den Waggon. Sie suchte sich keinen Platz, sondern blieb an den Türen stehen und sah zu ihm herüber. Wie gern wäre er noch eine Weile in ihrer Nähe geblieben, ohne etwas zu sagen, nur eine weitere halbe Stunde, eine Stunde mehr gemeinsam Zeit verbringen, um dieser merkwürdigen plötzlichen Situation etwas entgegenzusetzen. Die Türen schlossen sich, und die lange orangefarbene U-Bahn verschwand lärmend in der Tunnelröhre.
Er hatte das Gefühl, hellwach zu sein. Er sah auf die Uhr. Es war Viertel nach elf Uhr. Im Büro lagen
immer noch seine Sachen. Er beschloss, die Nacht in seiner Wohnung am Schreibtisch zu verbringen, so wie er es früher, ganz am Anfang seiner Arbeit, getan hatte, als ihm das Auflösen jeder einzelnen Unklarheit einer Geschichte wie etwas Unaufschiebbares vorgekommen war.
4
Eine kurze, seltsame Nacht
Er ging in die Küche, holte sich eine Büchse Bier aus dem Kühlschrank und öffnete die Fenster. Irgendwo in den Schubkästen musste noch ein altes Päckchen Zigaretten liegen. Sein Anrufbeantworter blinkte.
Er blätterte seine Post durch und trank langsam das Bier. Ihm war heiß. Er ging ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf. Das Wasser lief minutenlang über seine Hände, bis die Fingerspitzen rötlich schimmerten. Er blickte auf und sah im Spiegel seine Augen, die feuchten Haarspitzen - wie erschöpft er aussah. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
Er sehnte sich nach der Stimmung zurück, mit der er am Morgen aufgewacht war. Er hatte sich darauf gefreut, sich am Abend mit Freunden zu treffen, in einem der Seen im Süden der Stadt schwimmen zu gehen und danach die neu eröffnete Bar eines Freundes in Moabit zu besuchen. Und nun? Es war unheimlich, dass jemand so viele Details aus seinem Leben wusste, Details, die nur innerhalb einiger weniger Tage und Stunden eine Rolle gespielt hatten, ohne dass er sich
je darüber Gedanken gemacht hätte. Hatte er sich von dieser Frau überrumpeln lassen, von ihrer Geheimnistuerei, der angespannten Ruhe, mit der sie ihm im Café gegenübergesessen hatte? Oder hatte es vielleicht doch jemanden gegeben, damals in dem Hotel, der ihm aufgefallen war, oder einen Hinweis auf den Anschlag außer den allgemeinen Informationen, den Gerüchten, die in jenen Zeiten allgegenwärtig waren? Immerhin hatte der Ägypter ständig irgendwelche Andeutungen gemacht, die er freilich als reine Wichtigtuerei abgetan hatte. Vielleicht einer der Kellner? Leute, die er beim ersten Besuch in der Synagoge auf dem Parkplatz gesehen hatte? Warum hatte er sich damals bei der Familie nicht mehr gemeldet, nach der Rückkehr aus Tokio? Und warum hätte er sich auch melden sollen? Konnte das überhaupt irgendjemand von ihm verlangen?
Er ging zurück in sein Zimmer, öffnete den Schrank und zog die schwarzen Kartons hervor, in denen er Reisefotos und Notizen gesammelt hatte. Es war lächerlich. Maja konnte nicht ernstlich glauben, er sei in irgendeiner Weise in das Schicksal ihrer Eltern einbezogen. Er suchte nach seinen alten Aufzeichnungen, Notizbüchern, Zetteln, irgendetwas, das ihm helfen konnte, sich ein eigenes Bild zu verschaffen. Doch es war zwischen all den Papieren nichts zu finden, außer einigen Meeresaufnahmen, die ihm ein tunesischer Kollege geschenkt hatte, einer Postkarte mit der Vorderfont der weißen Synagoge und, sauber zu einem Rechteck gefaltet, der Zeitungsseite
mit dem Porträt des ägyptischen Schriftstellers, das er geschrieben hatte. Der Ägypter, in hellen Leinenhosen, saß in einem arabischen Café vor einer türkisfarbenen Wand. Das Foto wirkte wie neu, obwohl er es seit Jahren nicht mehr in der
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