Das Wuestenhaus
ihm nicht. Die ganze Geschichte, dass er in Deutschland studiert hätte, sei merkwürdig; er habe kaum etwas von Deutschland erzählt.
Ich saß im Fond des Wagens und sagte kein Wort mehr. Ich dachte daran, wie Sie wohl gerade zum Flughafen fuhren und ob Sie jemand in Berlin abholen würde. Wir fuhren durch immer dünner besiedeltes Gelände. Ockertöne gewannen die Oberhand. Einige alte Frauen in rot-gelben Gewändern, an denen wir vorbeifuhren, riefen uns etwas zu, ohne dass man jedoch erkennen konnte, was sie von uns wollten. Der Himmel war weit und fast gelb. Einige Sträucher tauchten am Wagenfenster auf, harte, lederartige Pflanzen, die geduldig ihre Zweige in der Hitze ausbreiteten. Die Luft roch nach Salz, ein feiner, zartbitterer Duft.
Als wir in dem Dorf ankamen, war ich erstaunt, wie leer und öde der Ort wirkte. Ich hatte mir vorgestellt, dass die Synagoge von einem regen Menschentreiben umgeben sei.
Das Gebäude zeigte seine weißen, länglichen Mauern und blauen Fenster. Es wirkte wie ein geisterhaftes, flaches Hotel mit mehreren Abteilungen, einsam und verlassen. Alle Türen waren geschlossen. Sie wirkten, als seien sie seit Jahrhunderten nicht mehr geöffnet worden. In nichts schien der Ort einem alten Schwimmbad zu gleichen. Nirgendwo eine Spur von Wasser und kühlender Frische. Nur einige Katzen strichen in der Tat umher.
In der Nähe der Zufahrt zu dem Gebäude stand ein großer Bus, der, wie ich im Vorbeifahren an den Schildern hinter der Frontscheibe erkennen konnte, zu einem deutschen Touristikunternehmen gehörte. Durch das geöffnete Fenster drangen ein paar Fetzen der Unterhaltung zu uns. Ich hörte, wie die Reiseleiterin mit einigen älteren Leuten deutsch redete.
Mein Vater sagte nur lapidar: »Mit dem Alleinsein wird’s wohl nichts.« Trotzdem schien er froh zu sein, den Ort erreicht zu haben.
Er parkte den Wagen in der Nähe des Busses. Er stieg aus und streckte die Arme von sich. An diesem Tag trug er eine hellgraue Windjacke, eine dunkelblaue Jeans und eine blaue Basecap. Meine Mutter folgte ihm. Ich blieb sitzen. Ich sagte, ich würde hier auf sie warten. »Die Synagoge interessiert mich nicht.«
»Maja, das ist nicht dein Ernst. Wir fahren extra hierher, und du willst im Auto verkümmern? Ich dachte, das hätten wir hinter uns.«
Ich schüttelte den Kopf und blieb sitzen.
»Das ist doch kindisch.«
»Lass sie«, sagte meine Mutter. Sie holte aus ihrer Tasche die Flasche Wasser, die sie aus dem Hotel mitgenommen hatte. Sie gab sie mir und meinte, ich solle das Auto auf keinen Fall verlassen. Sie bat mich, die Türen von innen zu verriegeln. Ich tat es. Sie warf mir diesen verschwörerischen Blick zu, den es nur zwischen uns beiden gab.
Ich blickte meinen Eltern nach, wie sie langsam die Auffahrt hinaufgingen in Richtung des lang gestreckten Hauses.
Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.
Später fragten mich die Ermittler, ob ich irgendetwas Verdächtiges bemerkt hätte. Menschen, die sich ungewöhnlich bewegt oder irgendwo gewartet hatten. Ich habe nichts gesehen. Für mich war das ein leerer Ort mit weißen Häusern, ein paar blauen Farbschichten irgendwo an den Wänden und Fenstern, einem Touristenbus und ungeheuer gleißendem Licht.
Ich war kurz eingenickt, als mich die Explosion weckte.
Ein ohrenbetäubender Lärm, der alles erzittern ließ. Wenig später sah ich die Feuersbrunst, eine drehende Feuersäule, die schnell in die Höhe stieg und sich zu einem glühenden Ball formte. Kurz darauf hörte ich die Schreie von Menschen. Und ich sah den Rauch, schwarzen, wild quellenden Rauch, der wie ein Bataillon aus dunklen Schwaden auf das Auto zutrieb, in dem ich saß.
Damals ging alles sehr schnell. Ich habe überhaupt keine Erinnerung mehr, wie ich von der Insel weggekommen bin, wer mich alles gefragt und untersucht hat. Es waren Hunderte Gesichter, aber das alles hatte nichts mit mir zu tun. Nur ein Bild habe ich noch klar vor Augen: einige wartende tunesische Frauen in der Polizeistation, die vor mir knieten, nach meinen Händen und meinem Kopf fassten und mich wortlos zu sich zogen, bis ich die Hände von meinem Gesicht löste und in der Wärme ihrer Umarmung versank, ohne zu wissen, wie lange ich so verharrte.
Es war tatsächlich unser letzter gemeinsamer Urlaub geworden. Das war es, was ich sicher wusste, als ich wieder in Freiburg war. Die Stadt hatte sich nicht verändert. Am Samstag war Markt in unserer kleinen Stadt. Die anderen Menschen gingen
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