Das Wuestenhaus
konnte nicht wissen, dass dein Vater sich gegen euch durchsetzt. Danach war ich drei Monate in Tokio, vollkommen beschäftigt mit meiner Arbeit. Die Zeitungen haben nicht sehr lange über diesen Vorfall berichtet.«
»Das alles ist jetzt nicht mehr wichtig.« »Nicht mehr wichtig? Für mich ist das sehr wichtig. Ich verstehe es nicht. Warum hast du all die Jahre gewartet, ehe du dich bei mir gemeldet hast?«
»Ich habe nicht gewartet. Ich konnte einfach nicht hierherkommen. Erst als mir die Vernehmer in Paris ihre vielen Fragen gestellt haben, immer wieder die
Bilder dieser Männer vor mich hinlegten, habe ich es nicht mehr ausgehalten. Nun wollen sie, dass ich wieder hinfahre.«
»Wieso in Paris? Welche Bilder?«
Maja schüttelte den Kopf.
»Es ist egal.«
Sie sah ihm nun direkt in die Augen, wie ein Kind, das sich wundert, warum man ihm immer wieder dieselben Fragen stellt.
»Du kannst nicht hierherkommen und sagen: ›Es ist egal‹! Willst du, dass ich verstehe, was passiert ist, oder willst du mir einfach sagen, ich sei schuld an dem Tod deiner Eltern?! Du hast nicht das Recht, deine ganze falsche Logik bei mir abzuladen wie einen Haufen Mist!«
Er spürte, dass die Sätze, die er sagte, wie eine heiße Druckwelle in ihm aufstiegen.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal eine so plötzliche, unkontrollierbare Wut empfunden hatte. Eine Wut, die seinen ganzen Körper erfasste und seine Hände zittern ließ.
Die Bedienung schaute nervös herüber.
»Vielleicht war mir damals auf dieser Insel langweilig, ja, Maja, vielleicht - ich weiß es nicht mehr. Es tut mir leid, möglicherweise habe ich in der Hitze zu viel getrunken und Dinge gesagt, die ich besser nicht gesagt hätte, vielleicht hat es mir sogar geschmeichelt, dass deine Eltern so an meinen Lippen gehangen haben, aber das macht aus mir noch niemanden, der Leute in den Tod schickt! Weißt du, wie viele Menschen ich
in meinem Beruf jeden Tag zufällig kennenlerne, mit ihnen rede, Meinungen austausche, Streit habe oder einfach nur eine kurze Zeit verbringe? Wenn jeder von ihnen aus einem Satz, den ich gesagt habe, eine Tat ableiten würde, dann …«
»Was wäre dann …?«
»Du weißt genau, was ich meine!«
»Wir müssen gehen. Sie wollen wirklich schließen.«
An der Tür des Cafés stand die Bedienung und steckte demonstrativ den Schlüssel ins Schloss. Er nahm das Heft vom Tisch und gab es Maja. Sie schüttelte den Kopf. »Ich brauche es nicht mehr.«
Trotz des leichten Regens war die Luft auf der Straße warm. Es roch nach feuchtem Staub. Maja ging langsam neben ihm her und schwieg.
Ihm war es unangenehm, dass er laut geworden war.
Als sie über die Brücke gingen, sah er, dass auf den Gleisen ein schwach glitzerndes Leuchten lag, Reflexionen von den über die Gleise gespannten Lampen. Er blieb stehen und berührte Majas Arm.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht anschreien. Es war dumm, was ich gesagt habe.«
Maja holte aus ihrer Tasche ein Zigarettenpäckchen und drehte es in ihren Händen. Unter der Brücke fuhr mit gedämpften metallischen Geräuschen eine S-Bahn in Richtung Norden.
»Ich habe dich vorhin wirklich nicht wiedererkannt. Ohne deine langen Haare und mit dieser Kopfbedeckung. Du hast dich vollkommen verändert.
Warum habe ich nicht wenigstens deine Stimme wiedererkannt …? Kann ich eine von deinen Zigaretten haben?«
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du dich erinnerst.«
»Sag mir, was ich tun kann, um dir zu helfen.«
»Ich brauche keine Hilfe. Es geht mir gut. Ich lebe bei Hannah und Sonja in Freiburg. Außerdem kümmert sich Bernhard um mich. Ich will nur endlich aufhören, an die Insel und diese drei Tage zu denken.«
»Willst du mir nichts über Paris erzählen? Haben Sie mittlerweile die Verantwortlichen gefunden?«
Der Rauch kroch stechend und bitter über seine Zunge.
»Sie werden nie alle finden. Es gibt keine Verantwortlichen.«
»Natürlich gibt es die.«
»Selbst wenn ich …«
»Warum erzählst du mir nicht, was du weißt? Hast du dich denn nie gefragt, ob Leute aus dem Hotel an der Geschichte beteiligt gewesen sein könnten?«
»Tamir hatte nichts damit zu tun.«
»Das Hotel bestand nicht nur aus Tamir.«
»Vielleicht war es ein Fehler, hierherzukommen. Hast du nicht gesagt, man muss sich auf das Jetzt konzentrieren?«
»Wenn du das willst, kannst du alles, was ich gesagt habe, gegen mich verwenden. Aber du siehst den Falschen an. Du musst dich für die wirklich
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