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Das Wuestenhaus

Titel: Das Wuestenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Wolfram
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wie in einer menschlichen Hand. Suchend und tastend ruderten die Arme mit ihren weißen zitternden Saugnäpfen in die Höhe und sanken gleich wieder in die Tiefe. Jeder dieser weißen Näpfe schien eigene, teleskopartige Augen zu besitzen, die nun verzweifelt nach Rettung Ausschau hielten. Die Enge des Bassins, gefüllt mit Meerwasser, war etwas vollkommen Ungewohntes für das Tier. Auf jede erdenkliche Art und Weise prüfte es die Veränderbarkeit der Wände und des Gitters, und je klarer es sich darüber wurde, dass dieses Gefängnis keinen Millimeter nachgab, desto zögerlicherwurden seine Bewegungen. Der Rücken des Oktopus glich einer vorzeitlichen Landschaft: Mulden, Risse, wächserne Flecken, rotbraune Flächen mit sandgelben Punkten waren zu sehen und silberne Streifen auf einer körnigen, vom Wasser weich gespülten Haut, durch die ein sanftes Pulsieren ging, ein geheimnisvolles Atmen, wie in einer Blase eingeschlossen.
    Die Vorfreude des Hotelbesitzers erfüllte das ganze Hotel. Die Kellner trugen Tische und Stühle zu dem kleinen Grundstück mit den großen Bäumen neben dem Hotel. Die Frau des Bruders, die Verwandten aus der Stadt und die Kinder des Bruders hielten sich in der Küche auf, schälten Gurken, Tomaten und Zwiebeln, rührten den Quark an, schnipselten Knoblauchzehen
und hackten Lauch klein, sodass auf dem großen Holzschneidebrett ein wässrig grüner Film zurückblieb. In der Mitte des Grundstücks, das von einem Zaun umschlossen war, befand sich ein Steintisch, der, wie der Hotelbesitzer sagte, »fast ein antikes Alter« hatte. Über diesen Tisch breiteten die Frauen ein großes weißes Tuch, dessen Enden fast den Boden berührten. Der Hotelbesitzer brachte mir ein Glas Wein in einem blauen Terrakottabecher, dessen Muster aus dunklen pfeilartigen Stäben bestand. Der Bruder rauchte unentwegt Zigaretten und verzog sich in die Küche. Nun, hieß es, sei es an der Zeit, den Oktopus aus dem Bassin zu holen.
    Ich ging noch einmal hinüber zu dem Bassin. Das Tier war vollkommen erschöpft. Seine Fangarme hingen lose herab, die Augen waren bereits zur Hälfte geschlossen. Mir wurde übel bei dem Gedanken, dass ich dieses Wesen verzehren sollte, dass etwas von diesem Körper in meinen Magen gelangen sollte. Die einzige Offenbarung, die ich mir vorstellen konnte, war die eines ungeheuren Ekels. Ich sah auf die Gitterstäbe hinunter. Neben mir erschien der Bruder des Hotelbesitzers. Die Augen des Tieres öffneten sich. Der Bruder gab mir zu verstehen, ich sollte mich ein Stück entfernen. Die Tentakel schoben sich erst vorsichtig, dann schneller und mutiger über den Bassinrand; das Wasser tropfte in kleinen, glitzernden Perlen von den Halt suchenden Armen ab. Mit einem blitzschnellen Ruck der Verzweiflung überwand das Tier den Rand des Bassins und landete auf dem schmutzigen Boden zwischen Grasmulden und Steinen. Der pilzartige Kopf schob sich in die Höhe. Die Augen waren schreckgeweitet, als der Bruder zugriff und das Tier mit einer einzigen, kräftigen Handbewegung in einen weißen Plastikeimer zu werfen versuchte, jedoch entglitt ihm der
Oktopus, ein kurzes Sich-Entwinden, das binnen einer Sekunde mit einem dumpfen erdigen Aufklatschen endete. Wie eine Kugel drehte sich das Tier auf dem Kopf, fiel zur Seite, streckte dabei wild rudernd seine Arme aus und schleppte sich mit ihnen voran über die Steine und das niedrige Gras. Der Bruder packte einen der Arme und schleuderte den Oktopus in die Höhe, sodass Wassertropfen durch die Gegend spritzten. Inmitten des staunenden Gelächters der Umstehenden wirbelte er das Tier einige Male wie ein zur Lächerlichkeit verkürztes Lasso in der Luft. Ein hässlicher, fleischartiger Klumpen drehte sich da in seiner Hand - der Bruder, Schweißperlen auf der Stirn, presste das Tier in den Eimer, auf den er rasch einen weißen Deckel drückte. Dann marschierte er in die Küche. Mir war schwindlig. Ich ging zum Strand hinunter und wusch mir das Gesicht. Ruhig und weich glitzerte das Nachmittagslicht auf dem Wasser in der Bucht.
    Als die Dunkelheit hereinbrach, zündete der Hotelbesitzer die Fackeln an, pfahlartige Standfackeln, die er in der Nähe des Zauns postiert hatte. Die Flammen züngelten schwach nach oben und verbreiteten rußigen Rauch um sich.
    Nach den Vorspeisen wurde der Oktopus aufgetragen. Krebsrote, zu kleinen Würsten zerschnittene Stücke der Fangarme gelangten auf die Teller, und der Bruder zeigte uns, wie man richtig die Zitronen über sie

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